Das Geständnis der Amme
Eigentlich hatte sie Joveta loslassen, nicht länger an ihren Haaren zerren wollen. Stattdessen hatte sie ihr einen Stoß versetzt, keinen allzu kräftigen, wie ihr schien … Konnte er ausgereicht haben, um sie in den Abgrund zu stoßen? Hatten sie sich nicht eben weit genug davon entfernt?
»Joveta …«, stammelte Johanna, und alles um sie herum drehte sich. Sie blickte auf ihre Hände, bemerkte, dass noch einzelne von Jovetas Strähnen schmerzhaft in ihre Finger schnitten, blickte dann in die Tiefe.
»Joveta …«
Als Johanna sich wieder umdrehte, schnaufte sie schwer. Die vielen Schneekristalle, eben noch von mattem Grau, begannen grell zu funkeln, als die Sonne auf sie fiel. Das Weiß brannte in Johannas Augen, vielleicht auch noch das, was sie zuletzt gesehenhatte: Joveta, dort unten liegend, mit verrenkten Gliedern, einem aufgerissenen, starren Blick. Die Schneedecke war nicht weich genug gewesen, ihren Sturz abzufedern. Schroff stachen unter ihr die Felsen hervor, die Joveta sämtliche Glieder und wohl auch das Genick gebrochen hatten.
Johanna kniff die Augen zusammen, ein Traum, nur ein böser Traum, das war nicht wirklich geschehen, das hatte sie nicht getan. Sie riss die Augen wieder auf, hoffte, erneut vom Schnee geblendet zu werden, selbst wenn sie blind würde, Hauptsache, es gab nichts anderes als dieses reine, unschuldige Weiß zu sehen, das die Welt und alles Böse auf ihr verschluckte. Doch als sie die Augen aufschlug, erblickte sie nicht Schnee – sondern jemanden vor sich stehen.
Wie immer hatte sich Madalgis lautlos angenähert. Als Johanna auf die Fußtritte blickte, die sie auf den Weg hierher hinterlassen hatte, gewahrte sie, dass diese nicht sonderlich tief waren. Madalgis versank auch dann nicht im Schnee, als sie an Johanna vorbeiging und in die Tiefe lugte. Als sie wieder zurück an ihre Seite trat, war das Gesicht ausdruckslos wie zuvor. Gerade weil er nicht vorwurfsvoll oder entsetzt war, mied Johanna ihren Blick. Sie ahnte, dass andere Sorgen sie in diesem Augenblick umtreiben sollten – und dennoch traf sie eine Gewissheit, die ihr nicht minder große Angst machte als das eigene Tun: Ihr Geist ist krank.
»Hör mir zu!«, sprach sie hastig auf das Mädchen ein, und während sie redete, wusste sie, dass sie es nicht nur tat, um sich selbst zu schützen, sondern um irgendeine Regung auszulösen, die bewies, dass Madalgis menschlich war. »Hör mir zu! Ich werde versuchen, Judith zu heilen, und wenn Gott will, wird sie genesen. Wir werden Weiterreisen, wir werden diese schrecklichen Berge überwinden, vielleicht schaffen wir es nach Rom, und irgendwann wird Balduin erkennen, dass Judith ihn nicht liebt. Aber du … du wirst mich nicht verraten, oder? Du wirst doch nicht sagen, dass ich es war, die Joveta … Glaub mir, ich habe es nicht gewollt.Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist … Es war ein Unfall, ein schrecklicher …«
Johanna brach ab. In Madalgis’ Miene regte sich immer noch nichts, weder Zuspruch noch Verachtung. Doch dann, mit einem Mal, als Johanna am wenigsten damit rechnete, schrie sie: »Hilfe!« Es klang laut und schrill. »Hilfe, kommt uns zu Hilfe!«
»Du wirst mich doch nicht verraten!«, rief Johanna noch einmal, diesmal panischer. Sie packte Madalgis am Handgelenk wie zuvor noch Joveta. Madalgis’ Arm fühlte sich eiskalt an, und das Mädchen war auch kräftig genug, um sich sofort aus ihrem Griff zu befreien. Hinter sich hörte Johanna Schritte, Stimmen. Fragen wurden gestellt, was geschehen war, warum sie so schreie, was denn nur …
»Bitte …«, stammelte Johanna. Die Kehle wurde ihr eng vor Angst und Schuld.
Da lächelte Madalgis zufrieden, und anders als sonst, da dieses Lächeln lediglich ihre Lippen verzerrte, leuchtete es über das ganze Gesicht, erfüllte ihre Augen mit einer warmen Glut. Das Lächeln ging Johanna durch Mark und Bein.
»Kommt uns zu Hilfe!«, kreischte Madalgis wieder, immer wieder. »Kommt schnell und seht! Joveta, die arme unglückliche Joveta hat sich verlaufen. Sie ist ausgerutscht und in die Tiefe gestürzt! Vielleicht, vielleicht können wir sie retten, wenn wir uns eilen!«
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XXVII. Kapitel
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Die letzten zehn Tage, die die Reise durch die Alpen währte, waren kalt und grau, verschonten sie aber von neuem Schneefall. Jeder Morgen brachte Mühsal, und Balduin wähnte – ob der gleichbleibend weißen, schroffen Landschaft und der steten Pflichten – die Zeit so zäh verrinnen, als wäre auch das
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