Das Geständnis der Amme
zugleich, ob eine, die nicht Herrin ihrer Lage ist, nicht besser stürbe.«
»Judith!«, rief er entsetzt.
Ihr Blick flackerte. »Vergib!«, murmelte sie kleinlaut und zugleich abwesend. »Ich darf mich nicht versündigen … aber ich wünschte so sehr, ich könnte ein paar Schritte gehen, ohne dass mir schwindelt. Und ich wünschte, wir hätten damals nicht meinetwegen in der Klause einkehren müssen, wo die arme Jo-veta …«
Es war das erste Mal seit Tagen, dass sie den Namen wieder in den Mund nahm. Sie setzte ihren Satz jedoch nicht fort, und auch Balduin schwieg betroffen. Nicht selten hatte er sich in Judiths Gegenwart verlegen gefühlt – doch nie so hilflos wie jetzt. Ihr Ha-der war ihm nicht fremd, auch er ertrug die Untätigkeit und Ohnmacht kaum. Doch beides wollte er ihr nicht zeigen, sodass er so lange den Mund hielt, bis auch jegliche Art des Zuspruchs verspätet schien.
Er wandte sich ab, wollte den Raum verlassen.
»Du gehst«, hielt ihn Judiths Stimme zurück. »Du gehst, weil auch dich mein Anblick erbärmlich deucht.«
»Judith!«, rief er entsetzt.
»Gib es doch zu«, meinte sie, und er war sich nicht sicher, ob es kleinlaut klang oder einfach nur kalt. »Gib zu, dass du mich betrachtest und dich dabei heimlich fragst, warum du dir diesen Ballast aufgebürdet hast.«
»Was denkst du nur?«
»Scheust du dich etwa nicht, bei mir zu liegen?«, fragte sie zurück.
»Judith, es ist jetzt nicht der rechte Zeitpunkt, um …«
Er brachte den Satz nicht zu Ende, sondern zuckte hilflos die Schultern, wünschte vergebens, ein Wort zu finden, das ihr Zuversicht schenken konnte – und ihn davon abhalten würde, in den Vorwürfen, die sie ihm machte, ein Fünkchen Wahrheit zu suchen.
»Geh nur!«, sagte sie da schon. »Lass mich allein. Es wird wieder … aufwärts gehen.«
Der Trost, den sie aussprach, wirkte schal. Von jener Stunde an geschah es, dass er ihre Gegenwart mied. Er saß zwar regelmäßig an dem Krankenbett, doch er verließ es oft so bald wie möglich mit der Ausrede, er müsse auf die Jagd gehen. Sie duldete es, und er selbst redete sich ein, dass er das alles täte, um sie mit kräftigender Brühe versorgen zu können. Doch in Wahrheit hatte er Angst, sie könnte ihn anstecken – nicht mit dem Husten, nicht mit dem Fieber, das einmal noch, wenngleich leichter, wiederkehrte, sondern mit Schwäche, Trostlosigkeit, mangelnder Entschlossenheit.
Immer häufiger verließ er schon im Morgengrauen die gemeinsame Bettstatt. Für gewöhnlich schlief sie dann noch – nur einmal war es ihm, als würde sie ihn durch den Spalt ihrer Lider mustern, würde prüfen, mit welchem Gesichtsausdruck er ihre Gestalt betrachtete, ob Abscheu darin stand – oder vielleicht doch Begehren. Bis dahin hatte er gemeint, dass das Fehlen vonLetzterem in solch schwerer Stunde nur angebracht sei. Nun erahnte er einen stillen Vorwurf, weil er dem Bett regelrecht entfloh. Zur eigenen Bestürzung nagte kein schlechtes Gewissen an ihm. Vielmehr gab der Trotz ihm einen Gedanken ein, dessen er sich schämte und den er doch nicht unterdrücken konnte: Sollte sie, die so oft versteift war, nur nicht vorgeben, es läge ihr viel an seinen Berührungen …
Augenblicklich schalt er sich selbst dafür. Es mussten die auszehrende Reise, die ungewisse Zukunft, ihre schlimme Krankheit sein, die ihn solches denken ließen.
Wenn sie wieder ganz gesund ist, tröstete er sich, wann immer ihn der Verlust von Vertrautheit und Nähe schmerzte, wenn sie gesund ist, wird alles wieder wie früher.
Fast drei Monate währte ihr Aufenthalt im Aostatal, dann schien Judith ausreichend gekräftigt, um die nächste Etappe anzutreten. An deren Ende würde das Kloster von Novalese bei Susa stehen, wo sich auch die Reisenden der anderen Route – jene, die von Vienne kommend die Alpen am Mons Cenis überquert und danach den Weg von Turin über Pavia genommen hatten – erholten.
Jenseits der Alpen erwartete sie das satte, gelbe, süße Licht des Südens, eine ebenso überraschende wie milde Himmelsgabe für ihre verhungerten Augen, die nur mehr stetes Weiß und Grau gewöhnt waren. Je weiter sie ritten, dessen grüner wurden die Wiesen. Noch standen die wilden Blumen darauf nicht in kräftigen Blüten, aber dann und wann sprießte bereits ein weicher, farbenfroher Flaum.
Das Stöhnen der Schöpfung, die in ihren Frühlingswehen lag –laut und krampfartig in der Nähe der schroffen Bergwelt –, verkam hier zum Geplapper des
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