Das Geständnis der Amme
Stundenglas vereist. Doch wann immer er zu fluchen geneigt war, weil die Pferde rutschten, sich die Reisenden erschöpft zeigten oder sich aus dem feuchten Holz kein Feuer machen ließ, verbiss er es sich um Judiths willen.
Er wusste nicht, was Johanna ihr gegeben hatte, aber es senkte zumindest das Fieber. Der Husten blieb, doch sie spuckte keinen Schleim mehr. Früh drängte Judith darauf, den Weg fortzusetzen, und er gab ihr nach, weil er der Klause samt ihrem merkwürdigen Bewohner so schnell wie möglich entkommen wollte. Doch schon am nächsten Tag zweifelte er, ob diese Entscheidung richtig gewesen war. Judith war bei klarem Bewusstsein, aber sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Sie saß, nachdem ihres zu Tode gekommen war, vor ihm auf dem Pferd und fühlte sich dabei so federleicht an, als würde sie Stunde für Stunde schwinden. Manchmal hatte er Angst, dass von ihr nichts mehr übrig wäre, hätten sie die mühselige Reise erst hinter sich gebracht. Nicht minder setzte ihm zu, dass es ihm nach Jovetas Tod schwerfiel, offen mit ihr zu reden. Ohne Scheu hatte Judith stets die Wahrheit vor sich hergetragen wie den Siegeskranz, doch nachdem er ihr berichtet hatte, was der armen Frau zugestoßen war, war sie verstummt.
Er hatte es ihr nicht gleich gesagt, hatte vielmehr versucht, esso lange wie möglich zu verschweigen. Judith brauchte schließlich sämtliche Kräfte für die Genesung, die Aufregung über einen solch tragischen Unglücksfall würde zu sehr daran zehren.
Doch als sie von sich aus ahnte, dass etwas nicht stimmte – sie war den ersten Tag wieder auf den Beinen –, als sie mit ruhigem Blick die Reisenden musterte, aber eine nicht fand, schließlich zu ihm trat und fragte: »Sie ist tot, nicht wahr?«, da reute es ihn, daraus ein Geheimnis gemacht zu haben.
Obgleich er nun alles erzählte – es war nicht viel, schließlich hatten sie Joveta erst gefunden, als sie schon gestürzt, es also zu spät war –, hatte er den Eindruck, es stünde fortan zwischen ihnen. Kein Schmerzenslaut, kein Schluchzen entfuhr ihrer Kehle, aber er konnte es in ihrem Gesicht lesen: Scheu vor dem Tod und Schrecken ob der Schuld, die sie sich auch selbst daran gab. Sie sprach es nicht aus, aber er wusste, was sie dachte: dass Joveta noch leben würde, wäre sie ihr nicht auf die Reise nach Rom ge-folgt, ja, wäre diese Reise mitsamt der gefährlichen überquerung der Alpen gar nicht erst notwendig geworden.
Balduin wusste nicht, wie er sie von dieser Schuld befreien, wie er sie trösten konnte. Kaum einer von der ganzen Gruppe wusste, wie man sich nun zu verhalten hatte: ob Trauer zu bekunden sei oder Entsetzen, ob Jovetas Tod als Warnung vor ihnen stehen sollte, um in der unwirtlichen Welt mehr Obacht zu geben, oder ob es besser war, darüber gar nicht erst nachzudenken, weil es sie lähmen würde, sich – noch in der Bergwelt gefangen – deren Bedrohungen auszumalen.
Später, sagte sich Balduin immer wieder, später würden sie in Ruhe über alles reden, würden Joveta angemessen würdigen und betrauern können.
Doch dann, als sie die gefährlichste Wegstrecke schließlich hinter sich gebracht hatten, breitete sich eine seltsame Verlegenheit zwischen ihnen allen aus. Ein jeder schien im Grübeln gefangen: Madalgis, Johanna, Judith – selbst Bruder Wunibald trug seine ängste und Sorgen nicht lauthals vor sich her, sondern verschwieg sie.
Als sie schließlich die Via Francigena erreichten, die die Römer einst Via Flaminia genannt hatten und die Aosta, Ivrea, Vercelli sowie Pavia verband, entschied Balduin bei einer Herberge, die ihm ausreichend behaglich und reinlich erschien, dass sie hier eine längere Rast einlegen würden. Judith sollte erst vollständig genesen, ehe sie die Reise fortsetzten.
Kaum einer widersetzte sich, auch Bruder Wunibald nicht, obgleich jener verbittert über die Kälte seine Hände rieb und ihm deutlich anzusehen war, wie sehr er nach dem Süden lechzte. Judith war die Einzige, die mit dem Umstand nicht nur haderte, sondern dies auch zeigte.
»Wie erbärmlich«, murrte sie, voll Groll und Hader über die eigene Gebrechlichkeit, »wie erbärmlich! Da flüchte ich vor meinem Vater, um mein Wohl dem Stellvertreter Christi auf Erden anheimzugeben – und bin nicht stark genug, die Reise durchzustehen.«
»Judith …«, setzte Balduin an.
»Sag nichts«, unterbrach sie ihn schroff. »Ich weiß, ich sollte dankbar sein, dass ich den Husten überlebt habe. Und frage mich
Weitere Kostenlose Bücher