Das Geständnis der Amme
angesehen. Erst jetzt gewahrte sie, wie rot die Kälte deren Gesicht gemalt hatte. Es wurde noch einen Farbton dunkler. »Ein so plötzlicher Sinneswandel?«, fragte Joveta und kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Du willst mich glauben machen, dass eine Frage meinerseits genügt, dich umzustimmen? Von wegen! Du … du wirst ihr nicht helfen, du wirst sie vergiften, nicht wahr?«
Warum ist sie nicht längst im Schnee erstickt?, fragte sich Johanna überdrüssig.
»Sag, was willst du eigentlich?«, gab sie scharf zurück. »Zuerst stellst du mich zur Rede – und dann klagst du mich solch abscheulicher Dinge an? Wer bist du, über mich zu richten? Ich kann’s dir sagen! Du bist feige und schwach, sonst würdest du nicht wieder bei Judith unterkriechen, obwohl du Balduin im Grunde für dich allein haben möchtest und dir die Eifersucht das Herz zerfrisst!«
»Judith ist meine Freundin! Sie … sie war die Einzige, die zu mir gestanden hat, nachdem mein Vater als Verräter verurteilt wurde!«
»So, so«, lachte Johanna spöttisch. »Und weiß sie, dass auch du eine Verräterin bist? Weiß sie, von wem die Botschaft stammte, die ihr seinerzeit in Senlis den ersten Fluchtversuch zunichte machte? Ich könnte mir denken, dass sie kein Wort mehr mit dir spricht, würde das erst bekannt werden.«
»Du …!«
Joveta schien sich an ihrer Wut zu verschlucken. Der Worte beraubt, suchte sie Johanna auf anderem Wege einzuschüchtern. Mit erhobenen Händen ging sie auf sie los, packte sie an den Schultern, wollte sie schütteln. Doch Johanna war, wenngleich nicht unbedingt größer, so doch sehniger und robuster. Ohne sichtliche Mühe konnte sie das Mädchen abwehren. Sie umfasste ihrerseits deren Handgelenke, bog sie schmerzhaft zurück, bis Joveta aufschrie, und hielt sie so gefangen.
»Lass mich los!«, schrie Joveta.
Johanna rührte sich nicht.
»Lass mich los oder ich schreie!«, kreischte Joveta erneut, diesmal panischer. »Ja, ich schreie, und dann werde ich ihnen die Wahrheit sagen, ihnen allen! Mag sein, dass ich zur Verräterin wurde, mag sein, dass ich damals den Boten zu König Karl schickte, aber du hast mich dazu erst angestiftet! Du warst es, die …«
Johannas Griff blieb fest, aber ihr Gesicht wurde fahl. »Das wagst du nicht! So dumm bist nicht einmal du! Dieses Geheimnis kettet uns zusammen, und keine von uns beiden wird es jemals aussprechen!«
Stöhnend kämpfte Joveta gegen ihren Griff. »Wem von uns beiden wird man eigentlich Glauben schenken?«, brachte sie schnaufend hervor. »Etwa dir? Obwohl du bislang kein einziges Wort mit Judith gesprochen hast? Obwohl du nicht sofort zur Hilfe eiltest und sie zu heilen versuchtest, als Balduin dich darum bat? Obwohl du ihm ständig in den Ohren liegst, dass er sie aufgeben soll? Ich denke nicht, dass dir irgendeiner traut! Mein Wort hat so viel mehr Gewicht als deines!«
»Ich bin für Balduin wie eine Mutter!«
»Von wegen! Ich habe nicht den Eindruck, dass er dich in den letzten Wochen mit jener Ehrerbietung behandelte, wie sie einer solchen zustünde. Und er weiß gewiss, was er tut. Aber bitte, wenn du meinst: Dann lassen wir es doch darauf ankommen, wem er glauben wird – dir oder mir?«
Rüde riss Joveta ihre Hände aus Johannas Griff, kaum dass der sich lockerte. Harsch drehte sie sich um, eilte mit stürmischenSchritten – soweit es der tiefe Schnee erlaubte – in Richtung der Klause. Noch ehe diese zu sehen war, bekam Johanna, die ihr gefolgt war, sie am Haar zu packen und riss sie daran zurück.
»Das tust du nicht! Das tust du nicht!«
»Und ob! Du hast mir nämlich gar nichts zu sagen! Es … es lastet schwer auf meinem Gewissen, was ich getan habe. Ich hätte mich Judith gern schon früher anvertraut. Aber jetzt, jetzt werde ich ihr alles erzählen, auch, dass du Madalgis zuerst zu deiner Verbündeten machen wolltest. Sie hat freilich nicht auf dich gehört – ach, hätte auch ich es nie getan!«
»Es ist erbärmlich, nicht zu dem zu stehen, was man getan hat!«
Joveta schrie auf, als Johanna sie noch schmerzhafter an den Haaren riss, doch sie hielt nicht den Mund. »Du selbst bist erbärmlich, Johanna, du allein! Machst alle Welt glauben, du würdest Balduin lieben wie einen Sohn, und dann …«
Ihre Worte rissen ab, einen Augenblick lang wusste Johanna nicht, warum.
Schweig!, hatte sie noch sagen wollen, schweig!
Doch dann war es überflüssig geworden, dann …
Es war zu schnell gegangen, viel zu schnell, um wahr zu sein.
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