Das Geständnis der Amme
lächeln auf. »Nicht,weil es gerecht wäre. Nicht, weil du dich dem Willen des Allmächtigen beugtest. Du bist erfahren in der Heilkunst – geh und hilf ihr!«
Er sah, wie ihre ablehnende Miene unsicher wurde, sah es und zog eine bittere Freude daraus. »Warum sollte ich? Weil du sie liebst?« Es klang zeternd.
Er rückte noch näher an sie heran, verstärkte sein Lächeln. »Weißt du, was ich an ihr liebe?«, fragte er zurück. »Judith ist eine Frau, die die Wahrheit sagt. Immer und immer wieder. Sie ist ehrlich. Sie macht keinem Menschen etwas vor. Nie … nie würde sie mich mit einem stolzen Lächeln in den Krieg schicken, um hinterher, wenn ich es nicht sehen kann, vor Angst zu weinen.«
Sein Lächeln schwand augenblicklich von seinen Lippen, und das schien ihr noch mehr zuzusetzen als sein Werben um sie.
»Denkst du, du stimmst mich ihr geneigter, wenn du mich der Verlogenheit bezichtigst?«, fuhr sie ihn an, aber es klang hilflos.
»Nein«, meinte er und erhob sich wieder, »aber ich denke, wir sollten die Wahrheit aussprechen und sie nicht verschleiern. Also, wirst du ihr helfen, weil ich dich darum bitte? Oder wirst du sie hier in der kalten Bergwelt armselig sterben lassen, weil du sie nicht ausstehen kannst?«
Die alten Hände verknoteten sich ineinander, die Knöchel traten weiß hervor.
»Ich denke darüber nach«, meinte sie schließlich.
Der Himmel war farblos und erstickend wie Wachs. Nur an manchen Stellen schien es abgekratzt, und dahinter quoll ein dünner Tropfen Blau hervor. Johanna war der Klause entflohen, brauchte frische Luft zum Nachdenken, doch die Einsamkeit fühlte sich klamm an. Nicht nur, dass der Schnee, durch den sie sich gekämpft hatten, schmolz und das kalte Wasser durch die Lederstiefel bis zu ihrer Haut vordrang – sie fühlte sich inmitten einer Welt, die sie, vor allem nach dem Sturm, lähmend und tot deuchte, zu klein, um über ihre Entscheidung nachzudenken. Balduins Blick hatte es noch heraufbeschwören können – all den Widerwillen gegendiese Ehe, all den Groll gegen Judith –, hier aber schrumpften ihre Vorbehalte. Sie war noch nicht zu der überzeugung gelangt, dass sie Judith um seinetwillen helfen musste, aber sie dachte, dass der Mensch in dieser Welt so nichtig war und somit auch alles, was er mit sich schleppte.
Sie starrte in den Himmel und auf den Abgrund, der sich zwischen zwei Felswänden vor ihr auf tat. Hatte der Tod eines Menschen hier womöglich viel weniger Gewicht als in der belebten Welt? Jedoch – floss nicht auch dort der unbeugsame Lebensstrom über die Qualen und den Kummer des Einzelnen hinweg und riss sie mit?
»Warum hilfst du ihr nicht einfach?«, hörte sie plötzlich eine unangenehme Stimme hinter sich. »Warum brauchst du Zeit, darüber nachzudenken?«
Johanna zuckte zusammen und vermisste augenblicklich die Leere, die sich vor ihr und in ihr aufgetan hatte, als sich ausgerechnet dieses Frauenzimmer hineinschob und sie störte.
»Joveta«, stellte sie fest.
Irgendwie war es ihr gelungen, sich während der Reise von dem Mädchen fernzuhalten. Wohingegen es Bruder Wunibald trotz seines Jammerns gelang, mit seiner manchmal durchtriebenen, manchmal unbeholfenen Art Belustigung zu erwecken, fiel Joveta einfach nur lästig – und Johanna war sicher, dass sie nicht die Einzige war, der es so erging.
»Also, warum hilfst du ihr nicht?« Es klang nicht bittend, eher nörgelnd.
»Ich habe Judith nicht in diese Lage gebracht, das hat sie selbst getan«, gab Johanna kalt zurück. »Diese gefährliche Reise hier ist allein ihre Schuld.«
»Und deswegen wünschst du ihr den Tod?«, fragte Joveta entsetzt.
Schon reute es Johanna, auf das Gespräch eingegangen zu sein. Zugleich konnte sie sich des Verdachts nicht erwehren, dass Joveta mit ihrer Empörung nicht Unrecht hatte. Es war das eine, Judith zu verachten, aber etwas ganz anderes, sie sterben zulassen. Sie dachte an Balduins Blick, den er ihr während des Gesprächs zugeworfen hatte – noch war er flehentlich, noch darauf ausgerichtet, sie umzustimmen. Doch sie ahnte schon, welchen Hass er auf sie werfen würde, wenn sie sich seiner Bitte entzog.
Er würde mir nicht verzeihen, ging es ihr durch den Kopf. Vielleicht könnte ich es mir selbst nicht verzeihen.
Sie wusste nicht einmal, was davon schwerer wog. Seufzend, sich dem Unvermeidlichen fügend, drehte sie sich um.
»Also gut«, murrte sie unwillig, »ich werde sehen, was ich tun kann.«
Sie hatte Joveta nicht
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