Das Geständnis der Amme
Nacht die Pilger schnarchen zu hören. Da kann ich gerne darauf verzichten, ihnen beim Beten zuzusehen.«
Auch Madalgis hatte sich dagegen entschieden, Wunibald und Judith Gesellschaft zu leisten. So waren sie denn allein mit den beiden jungen Männern unterwegs, die Balduin ihnen als Begleitung mitgeschickt hatte. Sie arbeiteten ansonsten in der Küche des Hospiz und waren froh, diesen Tag in größerer Bewegungsfreiheit verbringen zu können. Nach ihrem Marsch über das Marsfeld waren sie an den von der Trajanssäule überragten Kaiserforen vorbeigekommen, und von dort gingen sie weiter zur Kirche San demente, die vor knapp zwei Jahrzehnten mit neuen Fresken ausgemalt worden war.
Bruder Wunibald blieb so lange seufzend und bewundernd davor stehen, dass Judith schon vermeinte, sie würde ihn nicht wieder von diesem Ort fortlocken können. Freilich fragte sie sich beim Anblick seiner schweißbedeckten Stirne und seines wogenden Leibes, ob ihn wirklich nur die Schönheit von Kunst aufhielt oder nicht vielmehr die wohltuende Kühle des alten Gemäuers. Die südliche Sonne, die er aufrichtig liebte, setzte ihm nämlich seit der Mittagszeit heftig zu. Jeder Schritt geriet schnaufend, und sein Gesicht lief immer röter an.
»Wenn du willst«, meinte Judith, »kann ich auch allein mit den beiden Burschen …«
»Ach, der Körper ist schon das abscheuliche Gewand der Seele – da hat Gregor der Große ganz Recht! Aber ganz gewiss werde ich mich nicht von ihm bezwingen lassen!«, rief Wunibald entschlossen. »Glaubst du, ich lasse mir den Anblick des Kolosseums entgehen? Das Kolosseum ist das wichtigste Gebäude in ganz Rom. Hier sind die ersten Christen zu Märtyrern geworden. Es gilt der Satz: Solange das Kolosseum steht, steht Rom; wenn das Kolosseum fällt, fällt Rom und auch die Welt.«
So setzte er sich denn wieder schwerfällig in Bewegung, und trotz seines Schnaufens verzichtete er nicht darauf, Judith von alldem zu berichten, was er über die Ewige Stadt wusste. Unzählige Kriege hatten sie seit dem Ende des Römischen Reiches zerstört, doch an jeder Ecke wiesen vielerlei Zeichen auf die prächtige Vergangenheit hin: Reste der alten Stadtmauern und kunstvolle Tore, Triumphbögen und Thermen, schließlich das erwähnte Kolosseum. Ob es einen eindrucksvolleren Ort als diesen gebe, fragte Bruder Wunibald, um gleich hinzuzufügen, dass Rom natürlich auch für seine vielen Kirchen bekannt sei, insgesamt an die zwanzig, eine prächtiger als die andere.
Doch es war etwas anderes, was Judith am meisten faszinierte. Sie hatte erwartet, hier auf ähnlichen Trubel zu stoßen wie in Pavia, auf Menschen, die stritten und keiften, handelten und bauten, in armseligen, vor Schmutz starrenden Gewändern humpelten oder in prächtigen Kleidern auf Sänften getragen wurden. In der Umgebung des Hospizes war es auch so gewesen, doch im Umkreis des Kolosseums deuchten sie viele Straßen wie ausgestorben, und manche Häuser waren kaum mehr als Ruinen. Hier und da wurde gebaut – Mauern restauriert oder Aquädukte wiederhergestellt –, doch alles in allem erschien ihr die Stadt wie das übergroße Gewand eines zu klein geratenen Menschen.
»Du musst bedenken«, erklärte Bruder Wunibald auf ihre Frage hin. »Einst zählte die Stadt mindestens zweihundertfünfzig Mal tausend Einwohner und jetzt nur mehr zwanzig Mal tausend. Und die, die blieben, haben die meisten der Hügel verlassen. Die adeligen Familien leben entweder in der Gegend umdie Via Lata, dem östlichen Teil des Marsfeldes, oder auf dem Ventin. Die ärmeren hingegen haben sich zwischen Palatin und Kapitol rund um den Tiber angesiedelt, auch wenn jener häufig über das Ufer steigt und manche der einfachen Häuser mitreißt.«
»Und vor allem üblen Gestank verbreitet«, ergänzte Judith. Besonders bei brennender Sonne schien der modrige Fischgeruch allgegenwärtig. Schwärme von Fliegen und Mücken saßen in sämtlichem Gebüsch und suchten vor allem den armen Wunibald heim, als witterten sie, dass an ihm mehr frisches Fleisch und Blut zu erwarten standen als an der dünnen Judith, die die Reise sichtlich ausgezehrt hatte.
»Richtig belebt sind nur mehr zwei Hügel«, fuhr er indes fort, »der Caelius und der Vatikan. In der Basilika des Vatikans, die auf dem Grab des heiligen Petrus errichtet wurde, werden die Päpste geweiht, ehe sie mit einer festlichen Prozession zum Lateran begleitet werden, wo sie ihren Wohn- und Amtssitz nehmen. Erst nach ihrem Tod werden
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