Das Geständnis der Amme
aber nicht länger satt, sondern begehrte auf.
»Keiner könnte es mehr sein! Ich habe immer über ihn gewacht, ich bin immer für ihn da gewesen, ich habe ihn mit meinen Brüsten genährt. Und er … er hat mich gerettet.«
Judith drehte sich langsam um, ließ ihre Hände wieder sinken. Jetzt musste sie sich nicht mehr schützen. Jetzt sollte die Alte selbst zusehen, wie sie mit dem fertig wurde, was sie mitihrem billigen Triumph heraufbeschworen hatte. »Ja, ich weiß, er hat dich gerettet«, sagte Judith ganz ruhig, ganz freundlich. »Denn er hat dich vor der Erinnerung an dein eigenes Kind bewahrt. Madalgis hat es mir erzählt. Dass du einen Sohn hattest, aber du seiner nicht gedenken wolltest. Deswegen hast du dich an Balduin geklammert. Deswegen kannst du ihn bis heute nicht loslassen. Damit du dich nicht … umdrehen musst.«
Johanna erblasste. An ihren Wangen sah Judith, wie sie ihre Zähne aufeinanderrieb. »Wag es nicht!«, zischte sie.
»Was? Die Wahrheit zu benennen?« Diesmal war es Judith, die langsam nähertrat, die andere umkreiste. »Hast du Balduin jemals ins Herz geblickt, hast du erkannt, wer er ist und was er will? Oder war er dir nur nützlich, weil seine Gestalt etwas ganz anderes verstellte?«
»Du hast Balduin kaltherzig benutzt – nicht ich.«
Mit einem verächtlichen Ton wandte sich Johanna ab, wollte gehen. Kurz überlegte Judith, es ihr zu gestatten, sich damit zu begnügen, die andere vertrieben zu haben. Doch das reichte ihr plötzlich nicht mehr. Sie wartete, bis Johanna die Türe erreicht hatte, dann rief sie ihr nach: »Es hat mit dem Feuer zu tun, nicht wahr?«
Johanna blieb stehen, erstarrte.
»Du bist eine starke, furchtlose Frau«, fuhr Judith unbarmherzig fort, »du bist in keinerlei Weise verweichlicht. Herausforderungen wie die überquerung der Alpen meisterst du trotz deines Alters, trotz deiner wehen Knochen. Du hast im schlimmsten Schneesturm nicht mit der Wimper gezuckt. Doch allein der Anblick von Feuer stimmt dich panisch.«
»Das geht dich nichts an!« Langsam drehte sich Johanna wieder um.
Ja, dachte Judith, es geht mich nichts an. So wie dich so vieles nichts angeht.
Laut sprach sie: »Sie haben dein Dorf angezündet, die Normannen, nicht wahr? Sie haben alles niedergebrannt, was dir einst Heimat war. Aber … aber ich frage mich, ob es allein das ist, wasdich so furchtsam stimmt und was dir bis heute keine Ruhe lässt. Ist es wirklich nur der Anblick der brennenden Häuser? Oder ist nicht noch viel mehr geschehen als das?«
»Halt dein Maul!«, schrie Johanna.
Judith lachte auf. Sie sprach von Feuer, aber in ihrer Brust war es kalt, eiskalt, so sehr, dass es schmerzte. Kein Mitleid war da für Johanna, kein Verständnis, keine Gnade – nur tiefer überdruss an der eigenen Gabe, in die vor Furcht flackernden Augen der anderen blicken zu können und darin eine Wahrheit zu lesen, die sie lange erahnt hatte. »Du bist aus freien Stücken in meine Nähe gekommen, du wolltest mich verhöhnen«, sagte Judith, »also musst du nun ertragen, was ich zu sagen habe. Ich glaube, dass sie dein Kind verbrannt haben. Vor deinen Augen haben sie dein Kind verbrannt.«
Ein schrecklicher Laut entfuhr Johannas Kehle, ein Aufschrei, ein Schluchzen. Es klang nicht menschlich; viel zu laut war es, viel zu durchdringend, hatte es sich doch in all den Jahren zusammengehäuft.
Judith erschauderte, aber sie ließ nicht locker. »Sie haben dein Kind einfach ins Feuer fallen lassen«, sagte sie.
Mit einem neuerlichen Aufschrei stürzte Johanna auf Judith zu, umkrallte ihre Schultern, rüttelte sie. Kurz ließ Judith sie gewähren, vom Angriff überrascht. Dann packte sie diese dünnen, faltigen Handgelenke, wollte sie wegzerren. Ekel überkam sie; sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen so alten Menschen berührt zu haben. »Wie?«, lachte sie sich diesen Ekel weg. »Derart gewalttätig antwortest du? Ich dachte, diese Erinnerung würde schmerzen … nicht derart wütend und besinnungslos machen. Ist es womöglich etwas anderes, was dir zu schaffen macht?«
»Du hast keine Ahnung …«
Judith starrte sie an, fühlte, wie die Kälte aus ihrer Brust wich. Was immer da zwischen ihr und Johanna geschah, fühlte sich so lebendig an, so klärend – so unerträglich. »Ich verstehe«, sagte sie, und nun klang ihre Stimme weich. »Es ist nicht der Schmerz, der dich erdrückt, sondern die Schuld, nicht wahr? Den Schmerzkönntest du ertragen, aber nicht die Schuld. Davor bist du
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