Das Geständnis der Amme
leer, so als befände er sich im Leib eines anderen Menschen, dessen Erinnerungen er nicht teilte, dessen Hoffnungen er nicht kannte, dessen Gefühle ihm einzig in diesem einen Augenblick vertraut waren.
»Madalgis …«, setzte er wieder an, es klang lallend.
»Ich habe darauf gewartet«, murmelte sie. »Ich habe darauf gewartet, dass du mich wieder brauchst. Und jetzt brauchst du mich, um … sie zu vergessen. Du brauchst mich, um die Beschämung hinter dir zu lassen, die du durch sie erfahren hast.«
Sie stellte den Kelch nicht zurück, sondern ließ ihn einfach fallen. Der klirrende Ton ließ ihn zusammenfahren. Doch dann waren ihre Hände da, diesmal beide, die sich beschwichtigend auf ihn legten, von allen Seiten zu kommen schienen, behutsam und fast unerträglich leicht. Er hatte nicht das Gefühl, von einem Menschlein umarmt zu werden, vielmehr, als würde eine HordeAmeisen über ihn krabbeln. Vielleicht war das aber auch der Wein, der da unter seiner Haut brannte. Er wusste nicht mehr, ob sein eigener Körper diese Empfindungen bedingte oder der ihre, der sich an ihn schmiegte.
»Du kannst mich haben, Herr«, murmelte sie – und da kehrte erneut eine Erinnerung zurück. Sie hatte geweint. Damals, als sie sich einfach auf ihn gesetzt und ihm Lust bereitet hatte, da hatte sie geweint.
Er suchte den Blick ihrer gelblichen Augen, indes sich ihr Unterleib an seinen presste und sein Geschlecht darauf reagierte, ob er es wollte oder nicht. Ihre Augen waren trocken, heute weinte sie nicht.
Judith war hungrig.
Dieses Gefühl hatte sie selten – oft musste sie sich zum Essen zwingen –, besonders unerwartet traf es sie an einem Tag wie heute, da Empörung und Verbitterung ihr die Kehle derart zuschnürten. Und doch, es lagen aufregende Tage hinter ihr, und ihr Körper pochte auf sein Recht. Widerwillig verließ sie darum das Gemach, das ihr zugeteilt worden war und in das sie sich verkrochen hatte, in der Hoffnung, sie müsste niemanden mehr sehen. Nun, vielleicht gelang es ihr, im Gang irgendeinen Dienstboten zu erwischen, der ihr etwas Brot und Wein bringen konnte, ohne dass sie dabei Balduin oder Madalgis begegnete.
Kaum streckte sie freilich den Kopf nach draußen, kam es sogar noch schlimmer. Sie wich zurück, aber da war es schon zu spät.
Als hätte sie auf mich gelauert, dachte sie mürrisch.
Sie hoffte, dass es ein ausreichendes Signal war, der anderen den Rücken zuzuwenden. Doch entweder war das missverständlich, oder die bösartige Alte wollte die Geste gar nicht verstehen, weil sie nur darauf gewartet hatte, ihr endlich zuzusetzen. Prompt folgte sie ihr sogar ins Zimmer.
»Habe ich dir Einlass gewährt?«, fauchte Judith. Die eigene Stimme war ihr fremd, so zänkisch und aufgeregt, wie sie klang.Doch der anderen schien es zu gefallen, sie derart außer Fassung zu sehen.
Johanna blieb dreist mitten im Raum stehen und stemmte ihre Hände in die Hüften. »Bist du nun zufrieden?«, gab sie zurück.
Judith ahnte, dass es ein Fehler war, darauf einzugehen, sich nicht einfach so lange in Schweigen zu üben, bis die Alte sie in Ruhe lassen würde. Doch sie konnte den Mund nicht halten, konnte es ebenso wenig wie zuvor, als sie wusste, dass jedes Wort, das sie zu Balduin sagte, die Kluft noch tiefer schlagen würde. War die Macht des Wortes nicht oft die einzige gewesen, über die sie verfügte? Welches andere Werkzeug hatte sich jemals als tauglich erwiesen, anderen ernsthaft zuzusetzen? Und ja – das ging ihr jetzt auf –, sie wollte Johanna gerne verletzen, jetzt, wo sie anstelle der üblichen Verächtlichkeit dieses dreiste, triumphierende Gesicht einer Siegerin aufsetzte, als gäbe es an diesem Tag irgendetwas zu gewinnen.
»Nein«, sagte Judith, und noch zögerte sie den eigentlichen Angriff hinaus, von dem sie wusste, dass er gewaltsam ausfallen würde, »nein, ich bin nicht zufrieden. Warum sollte ich es sein?«
»Weil du meinen Sohn nun endgültig unglücklich gemacht hast«, sagte Johanna, und in der Art, wie sie näherkam, lag etwas Klebriges. Joveta war so gewesen und Madalgis manchmal auch, obgleich es angenehmer war, das Mädchen zu ertragen – Johannas Nähe aber wollte sie keinesfalls aushalten.
Judith verschränkte unbehaglich die Arme vor der Brust, rieb sich die Schultern und bemerkte spitz: »Er ist nicht dein Sohn.«
Sie sah nicht in Johannas Gesicht, um zu überprüfen, ob sie nun Sprünge in ihre Dreistigkeit gehauen hatte. Zumindest die Stimme der anderen war
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