Das Geständnis der Amme
Aufregung sorgte dieser Tage der Streit, den der Bischof von Laon mit jenem von Soissons ausfocht, weil der Reliquien vom heiligen Sebastian besaß. Hinkmar von Laon jedoch meinte, dass diese vielmehr in seinen Besitz fallen müssten. Da der Bischof von Soissons sich nicht als nachgiebig erwies, sondern auf sein Besitzrecht pochte, war Hinkmar von Laon dazu übergegangen, öffentlich an ihrer Echtheit zu zweifeln.
»Doch wisst Ihr, was dann geschehen ist?«, hatte Ovida gestern noch sensationslüstern gerufen. Judith musste gar nicht erst verneinen – sie fuhr von selbst fort: »Der Heilige ist dem Bischof im Traum erschienen und hat ihn schwer getadelt!«
Ovidas Gespräche waren für Judith ebenso hilfreich wie zermürbend. Sie war dankbar für die vorbehaltlose Freundlichkeit, mit der ihr jene entgegentrat, und manchmal fand sie den vielen Klatsch, den Ovida zu berichten hatte, auch zerstreuend. Doch sie ertrug es schlecht, dass die junge Frau davon ausging, ihre Unruhe wäre allein durch die Sorge um Balduin bedingt und ihre Liebe zu ihm ebenso grenzenlos wie unbeschwert.
Judith wusste nicht, wie glücklich Ovida über ihres Vaters Wahl gewesen war, Gerold zu ihrem Mann zu machen. Sie begegnetedem Gatten mit aufrichtiger, jedoch oberflächlicher Höflichkeit und ganz gewiss nicht mit echter Zuneigung. Doch gerade darum war sie wohl von der Vorstellung angetan, dass sich zwei Menschen fanden, die nicht dem Kalkül anderer folgten, sondern sich frei gewählt hatten. Immer wieder fragte sie nach, um mehr zu erfahren als jene Geschichten, die sich längst herumgesprochen hatten. Von der geheimen Flucht aus Senlis wusste man, desgleichen von der gefahrvollen Reise über die Alpen – aber wie genau war es geschehen, dass sie ihr Herz an Balduin verloren hatte?
In solchen Augenblicken hätte Judith Ovida am liebsten zur Hölle geschickt. Doch sie verbiss sich unflätige Worte ebenso wie die Wahrheit.
Dass Balduin in Richtung Friesland aufgebrochen war, ohne seine Pläne mit ihr zu besprechen oder Abschied von ihr zu nehmen, traf sie tiefer, als sie zugeben wollte. Gerade darum konnte sie nicht aussprechen, dass von der vielfach besungenen Liebe kaum mehr etwas übrig geblieben war, ja, es vielleicht nie genug gegeben hatte, um zwei unterschiedliche Menschen wie Balduin und sie dauerhaft zu vereinen. Lieber log sie Ovida an – etwas versöhnlich gestimmt, weil sie wusste, dass Ovida nur deshalb so neugierig war, weil sie dadurch ihren eigenen Sorgen zu entfliehen hoffte. Vor kurzem hatte sie herausgefunden, schwanger zu sein, und trotz Gerolds offensichtlichem Stolz, dass er seit Jahrzehnten der erste Graf von Laon war, der für einen Erben sorgte, ja trotz des Zuspruchs des mittlerweile greisen Bruders Ambrosius, wonach sie besonders gesegnet sein müsse, wenn Gott ihr so bald nach der Hochzeit diese Gnade erwies, verging sie doch heimlich vor Angst, das Kind könnte sie das Leben kosten.
Judith witterte diese Ängste, wenn Ovida nervös vor sich hin plapperte, und es fiel ihr dann leichter, selbst die Fassade zu wahren.
Vor einer konnte sie das jedoch nicht. Madalgis hatte seit Rom ihre Nähe gemieden. Weniger aus schlechtem Gewissen, sondern, wie es Judith schien, voller Verständnis, dass ihr Anblick die Königin schmerzen könnte. Jene Zeit der Schonung war nunfreilich vorbei. Eines Tages setzte sie sich in Judiths Gemach und fing ungezwungen zu reden an.
»Hier in Laon gibt es viele gelehrte Mönche. Ich dachte stets, du interessierst dich für Bücher und beschäftigst dich gerne mit der Wissenschaft. Warum tust du es nicht auch jetzt? Du hast alle Zeit der Welt dazu!«
Judith starrte sie an. Es gelang ihr nicht, Madalgis ohne Misstrauen zu mustern. Zwar war sie dem Mädchen nicht ernsthaft gram; sie wusste, dass Madalgis ihr ergeben war, dass sie Balduin vor allem ihretwillen verführt hatte. Doch es ängstigte sie, dass ihr das Mädchen in seiner Verblendung womöglich noch mehr zusetzen würde.
»Du musst mir nicht sagen, was ich zu tun habe«, entfuhr es ihr schroff. Die Worte taten ihr leid, kaum waren sie ihr über die Lippen getreten. Doch sie schienen Madalgis nicht zuzusetzen, im Gegenteil. Sie trat ganz dicht zu ihr.
»Du kannst dein Leben führen, wie du es willst, Königin. Du musst dich nicht rechtfertigen, schon gar nicht … vor ihm. Also triff dich mit Gelehrten. Oder kümmere dich um Arme und Kranke. Er wird es dir gestatten, weil er … sich schuldig fühlt. Nur vertrau ihm nicht,
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