Das Geständnis der Amme
mir? Obwohl du die Normannen hasst? Denkst du wirklich, wir sollten uns ihnen gegenüber ehrenvoll verhalten, ausgerechnet du?«
»Ich klage dich doch nicht an, Balduin, ich will doch nur …«
Er hob abwehrend die Hand. »Glaub mir, es ist mir nicht leichtgefallen, Rorik etwas vorzumachen und ihn anzulügen. Ich wünschte, ich hätte es nicht tun müssen. Ich wünschte, es wäre einfachzu entscheiden, was gut ist und was böse, wer unser Feind ist und wer nicht. Du … du hast es doch auch gespürt, nicht wahr?«
Er sprach es nicht aus, aber sie wusste, was er meinte. Sie hatte das fremde Volk aus der Nähe gesehen. Sie hatte nicht nur grimmige Krieger kennengelernt, sondern Kinder und Alte. Sie hatte in das menschliche Antlitz des Feindes gestarrt.
Nie hatte sie ihn danach gefragt, was sich in jenen Tagen zugetragen hatte, da er von den Normannen gefangen gewesen war und nicht wusste, ob jemand käme, ihn zu retten. Sie hatte geahnt, dass etwas geschehen sein musste, etwas, was danach seine Seele so sehr verdunkelt hatte. Doch erst jetzt konnte sie sich vorstellen, dass der damalige Schrecken nicht von der Begegnung mit dem grausamen Feind gezeugt hatte, sondern von der Begegnung mit Menschen.
»Balduin …«, setzte sie an.
Er unterbrach sie wieder, indem er rüde die Hand hob, doch diesmal war es keine Geste des Unwillens, sondern der Vorsicht. Derart mit seinen Worten beschäftigt, hatte sie kaum bemerkt, dass sie die weite Ebene verlassen hatten und der Weg nun durch einen Wald führte, lichter zwar als jene Wälder ihrer Heimat, aber doch dunkle Schatten werfend.
Balduin lauschte gebannt, schien etwas gehört zu haben. Auch sie vermeinte, ein Rascheln zu vernehmen, dachte aber, es wären nur Tiere.
»Balduin, du musst dir denken …«
Ein Schwert blitzte auf, durchschnitt die schweren, hängenden Äste der Laubbäume wie einen Vorhang. Fast lautlos war der Sprung des Pferdes vom moosbedeckten Wald auf den schmalen Weg. Nicht wuchtig, eher tänzelnd setzte es auf und drehte sich mehrmals im Kreise.
Balduins Hengst wieherte unruhig ob des unerwarteten Hindernisses, das sich ihnen da in den Weg stellte. Johanna packte ihre Zügel fester.
Doch dann, nach dem ersten Schrecken, erkannte sie den Mann, der sie vom Weiterreiten abhielt.
»Du bist uns gefolgt?«, fragte sie überrascht.
Die Miene des Mannes war ausdruckslos. Balduin jedoch erbleichte. Offenbar war ihm das Antlitz des Angreifers so vertraut wie ihr.
Die Männer musterten sich schweigend und wie erstarrt, nur Johannas Blick ging aufgeregt hin und her, suchte zu deuten, was da vor sich ging.
»Du bist uns gefolgt?«, fragte sie erneut, aber sie bekam keine Antwort.
Dann fiel ihr ein, weshalb der Mann ihnen nachgeritten sein könnte, wenngleich das nicht erklärte, warum Balduin ihn erkannte. »Geht es deinem Sohn gut?«, fragte sie. »Hat sich seine Wunde womöglich verschlimmert? Ich könnte …«
Sie brach ab, als der blonde Mann kurz seine Augen von Balduin löste, sie überhaupt erst wahrnahm, dann aber sofort wieder auf Balduin blickte, nachdenklich – und entschlossen. Da wusste sie, dass er ihnen nicht ihretwegen gefolgt war.
»Was willst du?«, fragte Balduin und versuchte, forsch zu klingen. Johanna war sich nicht sicher, ob er dem anderen vormachen konnte, unerschrocken zu sein – sie selbst hörte das Zittern in der Stimme ganz genau.
Sie wissen es, durchfuhr es sie, und die Furcht legte sich kalt um sie. Sie wissen, dass Balduin seinen Schwur nicht ernst meint, dass er Rorik verraten wird, nicht König Karl.
Doch was der blonde Mann bekundete, war schließlich noch viel beängstigender als dieser Verdacht.
»Ich stamme aus der Familie des Brynolff«, sprach er. »Mein Bruder hieß Eyvindr, und du hast ihn getötet. Wir sind Dänen, und er ist lange vor mir und meinen Geschwistern in die Fremde aufgebrochen. Jahrelang war ich auf der Suche nach dir, und eines Tages, vor vielen Jahren, habe ich dich beinahe gefunden. Damals hat dich ein Knabe gerettet. Doch heute werde ich Eyvindrs Tod rächen. Heute werde ich dich umbringen.«
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XXXVI. Kapitel
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In den letzten Wochen war Judith in die Angewohnheit verfallen, stundenlang auf- und abzuschreiten. Früher in Senlis hatte sie das nur getan, wenn sie unbeobachtet war und ihre Gedanken klären wollte. Nun zeigte sie ihre Unruhe auch in Gesellschaft – meist der von Gerolds Frau Ovida, die ihrerseits nicht müde wurde, den neuesten Tratsch zu erzählen: Für große
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