Das Geständnis der Amme
hatte, danach trachtend, es uns wegzunehmen, es sich zu unterwerfen und …
Diesmal waren es weder Blicke noch Gesten, die sie innehalten ließen. Inmitten des respektvollen Schweigens erklang ein Ton, ebenso zart wie traurig, sanft wie gleichmäßig. Er traf Johanna unvorbereitet, drang in ihre Seele, noch ehe sie ihn überhaupt erfasste, und breitete dort seinen Zauber aus.
Sie drehte sich um, spürte, wie sich die Anspannung, die sie seit Tagen nicht mehr losgelassen hatte, in ein Zittern auflöste, und wie ihre Augen mit Tränen auf den Ton antworteten.
Es war ein Knabe, der die Flöte spielte. Sein Haar war so hell, dass es fast weiß glänzte, seine Finger waren so zart wie die eines Mädchens. Er schien für sein Alter nicht sonderlich groß gewachsen, und seine Schultern waren schmaler als die der anderen Kinder. Die Panflöte, die er spielte, war aus einem einzigen Holzblock geschnitzt, in den fünf Löcher gebohrt waren, und ebenso viele Töne konnte das Kind erzeugen, indem es seine Finger flink darübergleiten ließ und mal das eine, mal das andere Loch abdeckte.
Als Johanna nähertrat, gewahrte sie, dass die Löcher eigentlich viel zu weit auseinanderstanden für die kleine Kinderhand. Doch der Knabe spreizte seine Finger so gekonnt, dass immer mehr von diesen Tönen erzeugt wurden. Manche glichen einem gequälten Stöhnen, andere einem hoffnungsvollen Seufzen; manche waren tief und flüsternd, andere wiederum wie ein weibisches Schluchzen.
Johannas Augen waren wieder trocken, keine einzige Träne war über ihre Lider geglitten, und auch das Zittern, das von der traurigen Melodie entfacht worden war, legte sich nun, da sie die Quelle kannte. Aber mochte dieser Zauber auch schwinden, so blieb doch ein Gedanke – nicht stärker als die Musik, aber doch vereinnahmend wie diese: Die Kinder gleichen den unseren.
Mein Mann, dachte Johanna unwillkürlich, und die Erinnerungen kamen zögerlich, aber klar. Mein Mann hat auch Flöte gespielt, als er noch ein Kind war. Ich kannte ihn von klein auf, noch lange bevor wir füreinander bestimmt wurden. Er war ein kräftiger Junge, und er arbeitete auf dem Feld wie ein Großer, aber am meisten mochte er es, die Flöte zu spielen, die ihm sein Großvater geschnitzt hatte. Mein Mann hieß Bertulf. Und wir haben mein Kind, meinen Sohn, Bertin genannt. Am Tag seiner Geburt hat Bertulf ihm ein Lied gespielt, und dann hat er sich über seine Wiege gebeugt und gesagt: »Wenn du groß bist, lehre ich dich, die Flöte zu spielen.«
Wie konnte ich das vergessen? Wie konnte ich das nur vergessen?
Mein Mann hieß Bertulf. Mein Sohn hieß Bertin.
Ehe die Erinnerung sie überwältigen konnte, hörte der Knabe zu flöten auf und blickte sie an. Zum ersten Mal erwartete sie nicht, einer Fratze zu begegnen. Er fragte sie etwas, jedoch in einer Sprache, die Johanna nicht verstand. Vielleicht hatte er ihren Namen wissen wollen, vielleicht nur fragen, wie ihr sein Spiel gefiel.
Als sie nichts sagte, nur schweigend nickte, setzte er die Panflöte wieder an den Mund und fuhr mit dem Spiel fort. Diesmal nahmen die Töne sie nicht restlos gefangen; sie betrachtete den Knaben genauer, sah, dass von seiner Wange über die Kehle bis zur Brust ein Schnitt verlief, nicht mehr blutig, aber von ungesundem Rot, so, als wäre er an einem Zweig oder Haken hängen geblieben und hätte sich daran verletzt.
»Du solltest das reinigen«, murmelte Johanna selbstvergessen, »und etwas Myrrhe darauf tupfen.«
Der Knabe hörte sie nicht, und selbst wenn, so hätte er sie nicht verstanden. Doch hinter ihr erhob sich ein Mann, ebenso blond wie der Knabe, doch um vieles kräftiger und muskulöser. Seine Bewegungen fielen fast lautlos aus.
»Mein Weib hat bereits Wermutwasser genommen«, sagte er –zu Johannas Erstaunen in einem zwar schlecht verständlichen, aber doch halbwegs flüssigen Fränkisch.
»Dann versteht sie offenbar etwas von der Heilkunst, denn das war eine ebenso gute Wahl«, murmelte sie.
Sie zögerte, dem Mann ins Gesicht zu schauen, zumal er etwas größer war als sie. Doch sie war nicht mehr von Furcht und Scheu zerrieben.
Johanna nickte, wandte sich zu gehen.
»Frau«, rief ihr der Mann da hinterher. »Frau – ist es wahr, dass es Balduin Eisenarm ist, der beim König zu Besuch weilt?«
Johanna blieb stehen. In der letzten Zeit hatte sie selten erlebt, dass Balduin so genannt wurde, und sie hatte nicht gewusst, dass dieser Name auch jenseits der Grenzen von König Karls
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