Das Geständnis der Amme
einer Frau offen stand: nämlich ihre Jungfräulichkeit Gott zu weihen, ansonsten aber der Welt verbunden zu bleiben. Anders als andere Frauen dieses Standes nutzte sie die Fülle an Lebenszeit jedoch nicht, um frommen Pflichten nachzugehen – das Gebet, das Erlernen von Psalmen, die mildtätigen Gaben –, sondern ihrer Leidenschaft für die Heilkunde, die jener von Johanna um nichts nachstand.
Nicht nur, weil sie sich über Erfahrungen austauschen und obendrein der jeweils anderen Wissen vermitteln konnten, war Johanna Rotrudes Gegenwart höchst angenehm. Entspannend war vor allem, dass diese nichts von steifem Zeremoniell hielt und schon gar nichts davon, den Blick auf die Wirklichkeit zu verschleiern. Als eine der wenigen sprach sie Balduins Namen offen aus – wenngleich weniger von Zuneigung oder Neugierde getrieben, sondern einzig aus Interesse daran, wie Johanna ihn nach seiner schweren Verletzung hatte heilen können.
Johanna erzählte es freimütig, um im Gegenzug von einem Mittel zu erfahren, das den Menschen während schmerzhafter Behandlungen in einen gnädigen Tiefschlaf versetzen konnte.
»Ich weiß«, sagte Rotrude, »manche ärzte scheren sich nicht um das Befinden des Patienten, wenn sie eingedrungene Gegenstände aus dem Fleisch schneiden, gebrochene Knochen zusammennageln oder Leistenbrüche flicken. Doch solch ein blutiger Eingriff mag rasch tödlich verlaufen, wenn der Kranke wild um sich schlägt und nicht ruhig liegen bleibt.«
»Und dank dieses … Mittels spürt er dann gar nichts mehr?«
»Wenn es recht dosiert ist, dann nicht. Also, das Mittel besteht aus Schlafmohn, Bilsenkraut und Alraune. Du kannst natürlich noch weitere Kräuter hinzumischen, die Schmerzen lindern, Entzündungen bekämpfen und den Geist ruhig stimmen. Aber diese drei sind am wichtigsten. Damit tränkst du einen Schwamm und presst ihn dem Kranken auf Mund und Nase, bis er in einen gnädigen Schlaf hinüberdämmert.«
»Ich verstehe«, sagte Johanna fasziniert.
»Aber gib Acht! Du darfst nicht zu viel davon nehmen. Und es ist sehr gefährlich, wenn man daran nicht nur riecht, sondern all das isst!«
»Und wenn man es doch tut?«, fragte Johanna.
»Insbesondere das Bilsenkraut ist hochgiftig. Dosierst du es falsch, dann entpuppt sich der Schlaf des Kranken nicht als heilend, sondern als ewiglich«, sprach Rotrude und kicherte, als fände sie nichts dabei, jemanden irrtümlich zu vergiften. überhaupt glaubte Johanna, dass Rotrudes Liebe zu den Kräutern um vieles größer war als ihre Liebe zu den Menschen und dass sie das Wohlergehen Zweiterer gerne aufs Spiel setzen würde, es vielleicht sogar schon getan hatte, um Erstere zu testen.
»Und das Destillieren«, fuhr Rotrude indes schon fort, »hast du schon einmal etwas darüber gehört, wie man mit Alkoholdämpfen Inhaltsstoffe aus den Pflanzen herauslösen und sie hernach konzentrieren kann?«
»Noch nie«, gab Johanna zu.
»Dann wird es Zeit, dass ich dir davon berichte«, meinte Rotrude und setzte zu einer langen Erklärung an.
Rotrude zögerte nicht, ebenso tief in der Erde zu wühlen wie Johanna. Anders als jener war es Rotrude freilich nicht gegeben, über Stunden am kalten Boden hocken zu bleiben und sich die Schmerzen ihrer morsch gewordenen Glieder zu verbeißen. Vielmehr wusste sie Bequemlichkeit zu schätzen und zog es nach einem knappen Stündlein stets vor, sich ächzend aufzurichten und hernach ein ausgiebiges Bad zu nehmen.
Dies war auch heute der Augenblick, da sich ihre Wege trennten,denn mochte Johanna sich nach der Wohltat des heißen Wassers durchaus sehnen, widerte es sie doch an, zu diesem Zwecke die Gesellschaft anderer Frauen ertragen zu müssen. Da fror sie lieber im kühlen Freien – so sie denn alleine war.
Diesmal währte ihre Einsamkeit nicht lange. Eben hatte sie eine Blüte ausgerissen, hielt sie nun gegen das schwächer werdende Sonnenlicht, um sie genau zu inspizieren, danach daran zu riechen und sie zu schmecken – es fiel ihr leichter, sich die Namen und Heilkräfte der Pflanzen zu merken, wenn mehrere ihrer Sinne sie kennenlernen durften –, als ein Schatten auf sie fiel, schmal und lautlos. Sie gewahrte ihn nicht gleich und fuhr umso heftiger zusammen, als plötzlich eine Gestalt neben ihr stand, so steif und reglos, als wäre sie mit dem Boden verwurzelt.
»Was erschreckst du mich so!«, rief Johanna gereizt. »Kannst du deinen Mund nicht aufmachen!«
Ihr Ärger perlte von der anderen ab. »Wir müssen etwas
Weitere Kostenlose Bücher