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Das Geständnis der Amme

Das Geständnis der Amme

Titel: Das Geständnis der Amme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Krohn
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Stunden herbeizusehnen. Schleppend vergingen Morgen und Vormittag; er fühlte sich unwohl angesichts der eigenen Untätigkeit und noch mehr angesichts der Blicke jener Männer, die zu prüfen schienen, ob sein Arm ausreichend geheilt war, um Waffen zu halten und ihnen deren Gebrauch zu zeigen. Gleichwohl er erleichtert war, dass sie es aufschoben, wäre es ihm manchmal doch lieber gewesen, wenn Pflichten ihm die schweren Gedanken, das Heimweh, die Untätigkeit vertrieben hätten.
    Die Abendstunden hingegen erlösten ihn von seinem stumpfen Warten. Balduin erfuhr rasch, dass er nicht der Einzige war, der Interesse an Eyvindrs Gabe hatte, Geschichten in die Erde zu ritzen. Auch sämtliche Kinder des Dorfs scharten sich im sanften Dämmerlicht um den Knaben und fanden Gefallen daran, wenn er ihnen, meist ohne Worte, allein mit Bildern, etwas erzählte, etwa von seiner älteren Schwester Elin, die in der Kunst geübt war, Schiff s taue aus Walhäuten zu fertigen. Die Häute wiederum brachte ein anderer Verwandter von seinen langen und gefährlichenFahrten auf dem grauen Meer mit; man wusste nie, ob er wiederkehrte, und die Frau, die daheim auf ihn wartete, weinte sich oft die Augen nach ihm aus. Und dann war da Eyvindrs Vater, der es verstand, kunstvolle Figuren zu schnitzen, in deren Ornamenten Tiergestalten versteckt waren. Der Vater war es auch, der im Winter spezielle Schuhe fertigte, indem er etwas, was wie ein Knochen aussah – offenbar stammte dieser von einem Tier –, auf Fußgröße zuschnitt und abflachte, sodass man damit selbst auf Eis gehen konnte, ohne auszurutschen.
    »Ísleggr«, sagte Eyvindr.
    Balduin war sich nicht sicher, ob das der Name des Vaters oder des Schuhs war, aber er nickte ernsthaft. Auch als Eyvindr Geschichten von seinen Göttern zeichnete, lauschte er gebannt, versuchte sich Namen einzuprägen, von Odin, dem einäugigen Göttervater, der in den Bildern des Knaben in seinem Palast Valhöll residierte und auf dessen Schultern die Raben Huginn und Muninn saßen.
    Wann immer Eyvindr diese Raben malte, lachten die Kinder, denn von allem schienen sie ihnen am besten zu gefallen. Vielleicht war es dieser Ton, unschuldig und hell, der Balduin nicht daran denken ließ, dass sein Seelenheil inmitten dieser Heiden gefährdet war. Vielleicht war es auch, weil kein Priester zugegen war, der ihn ermahnte, und weil das einzige Urteil also, das er über diese Menschen zu fällen imstande war, von ihm selbst stammte.
    Eines Abends zeichnete Eyvindr keine Bilder in die Erde, sondern stieß Balduin sacht an. Der zuckte zusammen. Obwohl Eyvindr ihn schon mehrmals berührt hatte, vor allem dann, wenn er seine Wunde pflegte, schien ihm der Knabe immer noch derart der Welt entrückt, dass es befremdend war, von ihm angefasst zu werden.
    Eyvindr sagte etwas, es klang fordernd, und als Balduin – wie stets – nichts verstand, drückte der Knabe ihm das Holzstäbchen in die Hand. Groa, die Balduin nach wie vor mit Essen versorgte und ihnen ebenfalls oft Gesellschaft leistete, lächelte aufmunternd.
    »Soll ich … soll ich auch zeichnen? Aber ich kann das nicht! Ihr wollt, dass ich zeichne?«
    Eyvindr nickte bekräftigend.
    »Ich kann es wirklich nicht!«, wiederholte Balduin und ließ das Holzstäbchen fallen. Heftig schüttelte er den Kopf. Als er die enttäuschten Gesichter sah, reute es ihn freilich.
    »Aber ich kann euch etwas zeigen«, sagte er schnell, und obwohl er wusste, dass ihn niemand verstand, fuhr er eifrig fort: »Als ich klein war, hat mir die Frau, die mich als Amme nährte, sie heißt Johanna, ein Amulett geschenkt. Sie wollte, dass ich es stets trage, damit es mich beschützt …«
    Er hielt inne, als ihm aufging, dass Johanna ihn mit dem Amulett vor allem vor jenen Menschen hatte schützen wollen, in deren Kreis er nun saß.
    »Es ist sehr kunstvoll gemacht«, fuhr er rasch fort, »es zeigt eine Figur und …«
    Wieder hielt er inne, diesmal nicht aufgrund seines Unbehagens, sondern vor schlichtem Entsetzen. Er hatte beim Reden an seine Brust gegriffen, wo das Amulett immer gehangen hatte, um nun festzustellen, dass es nicht mehr dort war.
    »Was zum …«, entfuhr es ihm.
    Wieder beruhigte ihn Eyvindr, indem er ihm die Hand auf die Schulter legte. Balduins Worte mochte er nicht verstanden haben, umso mehr aber seine Geste. Er sagte etwas in der fremdländischen Sprache, deutete dabei auf die Hütte und machte mehrere Handbewegungen, um zu zeigen, wie er selbst Balduin das Amulett

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