Das Gewicht der Liebe
stehen blieb, während Autos vorbeirasten und Fahrer sie anbrüllten und anblinkten und anhupten. Johlende Jugendliche in einer haifischförmigen Limousine drehten auf die mittlere Spur ab, als wollten sie Roxanne überfahren. Sie blickte sich zum Haus um. Sie konnte sich nicht entsinnen, ob sie das Licht im Wohnzimmer angelassen hatte. Das Fenster glühte gelb.
Bei der nächsten Verkehrslücke rannte sie weiter; ihre Schlappen verursachten ein klatschendes Geräusch auf dem Asphalt wie Applaus.
Am Eingang zur Bar schob sie die Tür mit der Schulter auf. Innen war es dunkel, und es roch nach Bier und Zigaretten wie im Schlafzimmer ihrer Eltern. Niemand bemerkte sie, als sie neben der Tür stand, sich suchend nach einem vertrauten Gesicht umsah. Sie bewegte sich etwas weiter in die lange, schmale Bar hinein, machte kleine, vorsichtige Schritte. Aus dem hinteren Bereich vernahm sie das Klicken eines Queues, der einen Ball anstieß, und das Lachen ihrer Mutter. Roxanne kreischte ihre Namen. Nicht Mommy oder Daddy, sondern: »Dale, Ellen! Feuer!«
Ellen befand sich in einem Schwebezustand, weder schlafend, noch wach: bewusst und gleichzeitig losgelöst von der Außenwelt, außerstande, ihre Konzentration für längere Zeit auf irgendetwas zu richten. Sie öffnete die Augen gerade weit genug, um durch den Saum ihrer Wimpern hindurchsehen zu können, und da, neben dem Bett, saß Roxanne – ihre komplizierte, erwachsene Tochter. Und dann sah sie die andere Roxanne, dürr wie eine Vogelscheuche mit verfilztem Haar, in einen rosa-gelb gestreiften Pyjama mit kurzen Hosen gekleidet.
Ellen hatte sich nichts anderes gewünscht, als glücklich zu sein, und damit dies gewährleistet war, musste Dale glücklich sein und gerne zu ihr nach Hause kommen. Ein Baby, das sie eigentlich nicht haben wollte, ein Fulltimejob, ein Ehemann, der Aufmerksamkeit verlangte: Das war einfach zu viel für sie.
Die Erinnerung strömte durch das Mondlicht auf sie ein, eine Pistolenkugel aus Licht, der sie nicht ausweichen konnte.
Jemand aus dem Royal Flush hatte Roxanne über die Straße nach Hause gebracht. Es war kein schlimmes Feuer, ein paar brutzelnde Kabel und ein schwelendes Teppichstück, trotzdem kam der Feuerwehrwagen mit heulenden Sirenen vorgefahren. Während ihre Freunde aus der Bar herumstanden und glotzten, wurden Ellen und Dale von der Polizei befragt. Man gab ihnen das Gefühl, schlechte Eltern zu sein, und mahnte sie, Roxanne nicht mehr allein zu lassen. Schließlich fuhr die Polizei wieder weg, und der Feuerwehrwagen drehte vor dem Haus um. Ellens und Dales Freunde kehrten in die Bar zurück, aber sie muss ten wegen Roxanne zu Hause bleiben. Sie tranken Bier, während sie sich im Fernsehen »The Tonight Show« mit Johnny Carson anschauten.
Roxanne lag im Bett, jammerte und wimmerte wegen ihrer Ohrenschmerzen, und sie schrien sie an.
»Halt die Klappe, sonst gebe ich dir wirklich einen Grund zum Weinen.«
Damals tat Ellen alles, was Dale verlangte, solange er nur glücklich war und bei ihr blieb.
»Zum Teufel mit dir, Roxanne.«
Sie wollte, dass ihr Herz im Gleichklang mit seinem schlug. Hätte sie ihren Atem mit seinem synchron schalten können, so hätte sie es getan.
»Jetzt habe ich langsam genug von dir.«
Wer setzte sich als Erster in Bewegung? Ellen war sich dessen nie sicher gewesen. Einer von ihnen beiden drehte den Ton im Fernsehen so laut wie es ging. Vielleicht ging er voraus, vielleicht betrat sie die Veranda als Erste. Ellen brauchte Dale nur anzusehen, um zu wissen, was er dachte und wollte. Sie ging in die Hocke und griff unter dem Bett nach einem von Roxannes Schlappen.
»Jetzt werde ich dir mal richtige Ohrenschmerzen verpassen.«
Ellens Haarwurzeln standen in Flammen.
Roxanne sagte: »Du wirst morgen früh durstig sein, Mom. Ich werde dir ein Glas Wasser holen, damit du etwas zu trinken hast, wenn du wach wirst.«
»Bleib – wegen deiner Frage von vorhin …«
»Du wolltest mich nicht haben. Ich habe es kapiert.«
»Nein – ja, aber …« Ellen schüttelte den Kopf, und ihr Magen verkrampfte sich. »Ich war damals auch allein. Und ich hatte Angst.« Sie wollte für immer durch leere Kälte fallen, bis ihre Erinnerungen zu Eisschmelze wurden und zerrannen … »Ich hatte Angst … wenn du geblieben wärst … hätte ich dich … ich hätte dir wehgetan.«
Ty war über einem Buch eingeschlafen. Roxanne stand einen Moment da, blickte auf ihn hinunter, liebte ihn. Ihre Mutter hatte recht, die Zeit
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