Das Gewicht der Liebe
Handelns zu bewahren.
Nein. In jeder Hinsicht nein.
»Ich habe Johnny angerufen. Er ist noch in Nevada, wird aber bis um acht zu Hause sein.«
»Ich will ihn nicht sehen.«
Roxanne würde sich auf diese Art von Gespräch nicht einlassen.
»Merell braucht eine Schuluniform. Ich werde mit ihr zu Macy’s gehen und mich darum kümmern.«
»Was stimmt nicht mit mir? Warum liebt er mich nicht mehr und …?«
»Johnny liebt dich, Simone. Hier geht es nicht um Liebe.«
»Ich wollte doch einfach nur Cupcakes backen …«
Roxanne dachte an Mrs. Edison, die sie mithilfe ihres Kochbuchs lesen gelehrt hatte, und daran, wie sie sich als kleines Mädchen vorgestellt hatte, Bakersfield sei ein Feld voller Bäcker, als sie mit ihrer Mutter auf dem Highway 99 in Richtung Norden gefahren war, ohne irgendeine Vor stellung davon, wohin sie gebracht werden würde und warum; und als wäre es erst gestern gewesen, war ihr die kindliche Gefühlswelt mit schmerzhafter Intensität wieder gegenwärtig: sich danach sehnen, erwachsen zu werden, dazu verdammt sein, erwachsen zu werden, und es gleichzeitig unvorstellbar finden, dass dies jemals eintreten würde. Doch sie war erwachsen geworden, und bei Merell und den Zwillingen würde es genauso sein. Nur bei Simone war es anders. Nur sie blieb, wie sie war, ein kleines Mädchen im schönen Körper einer Frau.
»Ich werde Franny anrufen«, sagte Simone. »Ich werde mich bei ihr entschuldigen, und dann wird sie zurückkommen.«
»Ich habe es bereits unter der Nummer versucht, die sie hinterlassen hat. Franny ist weggegangen.«
»Wohin denn?« Als hätte Franny in der Nähe bleiben und darauf warten sollen, erneut beleidigt zu werden.
»Wenn wir die Uniform gekauft haben, werde ich mit Merell zum Essen gehen.«
»Und du wirst es Johnny nicht erzählen? Wir werden zusammen zu dem Arzt gehen, wir beide?«
»Wenn ich Merell zurückbringe, werde ich mit dir noch warten, bis Johnny nach Hause kommt.«
Simone wickelte eine Haarsträhne um den Zeigefinger und zog daran.
»Ich werde bei dir bleiben, während du ihm erzählst, was passiert ist. Danach könnt ihr beide euch Gedanken darüber machen, wie es weitergehen soll.«
»Nein.«
Roxanne legte die Hand auf Simones Hand, bog behutsam ihre Finger zurück, bis die um ihren Zeigefinger gewickelte Haarsträhne sich löste. »Ich werde dir beistehen, Simone, aber du musst Johnny alles erzählen, was heute passiert ist. Danach müsst ihr euch überlegen, wie ihr mit Dr. Hamid verfahren wollt.«
Simone lag auf dem Bett, halb gelähmt vor Angst.
Alicia .
Ein Arrangement .
Eine Trennung .
Wie oft hatte sie sich danach gesehnt, in einem Haus ohne plappernder, fordernder Kinder aufzuwachen? Jetzt wurde ihr bewusst, dass es die Hölle wäre: das idiotische Geschnatter der Zwillinge, Olivias Gekreische, Merell, die alles besser wusste. Es war dieses Durcheinander, das ihrem Leben Struktur verlieh. Was hätte ihr Leben sonst für einen Sinn? Was würde sie tun, wenn sie ein Haus für sich alleine hätte? Jetzt würde sie die Mädchen am liebsten zu sich ins Bett holen, die Tür schließen und sie alle so fest an sich drücken, dass sie nicht einmal mehr sprechen könnten. Sie würden zusammen im Bett liegen, bis Johnny nach Hause käme, und wenn er sehen würde, wie süß und friedlich sie da zusammenlagen, würde es ihm leidtun, solche Drohungen ausgestoßen zu haben.
Vor Johnny hatte Shawn Hutton sie geliebt.
Wie seltsam, dass sie bis vor einem Monat jahrelang nicht mehr an Shawn Hutton gedacht hatte. Oder ans Segeln, was auf dasselbe hinauslief. Jetzt war beides ständig in ihren Gedanken. Jedes Mal, wenn sie über Shawn und das Segeln nachdachte, waren beide ganz nah, warteten nur darauf, dass sie sich ihnen widmete. Vielleicht waren Shawn und das Segeln immer in der Nähe gewesen, und es war ihr nur nicht aufgefallen, weil die Kinder und Johnny sie die ganze Zeit beschäftigt hielten.
Sie schloss die Augen und sah Shawn vor sich, wie er mit siebzehn ausgesehen hatte. Große Zähne, Augen in der Farbe von türkisem Wasser, die Nase immer rosa und sich schälend. Ein lustig aussehender Junge, aber süß und immer lieb. Als er ihr beibrachte, einen Palstek zu knüpfen, war er von engelsgleicher Geduld gewesen, hatte die einzelnen Schritte ständig wiederholt, bis sie es allein konnte, und als sie am nächsten Tag kam und es wieder vergessen hatte, hatte es ihm nichts ausgemacht, wieder von vorne zu beginnen. Er war der süßeste Mensch,
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