Das Gewicht der Liebe
den sie je gekannt hatte. Nicht reizbar und ungeduldig wie Johnny.
In jenem Sommer waren Simone und Shawn oft heimlich an Bord der Oriole gegangen und hatten sich in der Doppelbettkajüte seiner Eltern geliebt. Die Laken fühlten sich nie richtig trocken an, und in der Luft lag der faulige, abgestandene Geruch nach Bilgewasser, doch das störte sie nicht. Eines Nachts sagte Shawn: »Meine Eltern ziehen mir das Fell über die Ohren, wenn sie das jemals herausfinden.« Seine Worte brachten Simone zum Kichern, sie konnte gar nicht mehr aufhören. Als sie auf das Deck hi naufrennen wollte, packte Shawn sie und hielt ihr den Mund zu, damit sie mit ihrem Gekicher nicht die Leute auf den anderen Schiffen weckte, die zu beiden Seiten der Oriole vor Anker lagen. Nachdem sie sich noch einmal geliebt hatten, brachte er sie nach Hause, und sie schlich zu ihrem Zimmer hinauf, schlief ein paar Stunden, und um sieben holte er sie wieder ab, und sie verbrachten den ganzen Tag mit seinen Eltern und deren Freunden auf dem Wasser. So sehnlichst, wie sich Johnny einen Sohn wünschte und Roxanne Lehrerin sein wollte, hatten Simone und Shawn zusammen segeln wollen.
Nach dem Unfall sagten Ellen und BJ , sie solle sich das Segeln »ein für alle Mal« aus dem Kopf schlagen, als wäre das unbeschwerte Fliegen über das Wasser etwas, das sie einfach wie das große Einmaleins vergessen konnte. Unentwegt erklärten die beiden, sie brauche nicht einmal daran zu denken, und so dachte sie nicht mehr daran, weil sie damals noch nicht, so wie jetzt, wusste, dass man für eine wichtige und richtige Sache bereit sein muss, alles zu tun.
Sie driftete in einen schläfrigen, salzigen Tagtraum ab, in dem sich Shawn und Sex und das Meer miteinander vermischten. Sie träumte, sie würde fliegen, und wachte wenige Sekunden später mit der wunderbarsten Idee auf.
In einem speziellen Bereich der Mädchenabteilung im Fashion Valley Macy’s hing eine große Auswahl an Schuluniformen unter den dazugehörigen Schulemblemen und Flaggen. Am späten Freitagnachmittag war die Abteilung von aufgeregten kleinen Mädchen und deren Müttern bevölkert sowie von einigen blasierten älteren Mädchen, die allein shoppen gingen, ihre Handys an den Ohren festgeklebt. Roxanne kaufte Merell Röcke und Blusen und, was das Wichtigste war, einen kakaobraunen Blazer mit einem aufgestickten goldenen Arcadia-Emblem, der die Mädchen in der Upper Primary von den »Babys« in der Lower Primary unterschied. Nach der Shoppingtour sprüh te Merell vor Aufregung Funken und benötigte nichts weniger als Zucker. Dennoch erhob Roxanne keinen Einwand, als das Mädchen im Big Bad Cat in Hillcrest einen Schokoladen-Milchshake bestellte und dazu eine Portion Pommes, getränkt in geschmolzenem Käse, buttrig gelb wie ein Halloweenkürbis.
Merell hatte einen schrecklichen Tag hinter sich. Es stand ihr zu, sich alles aus der Speisekarte zu bestellen, was sie sich wünschte.
Die umliegenden Tische waren mit Kindern und Erwachsenen besetzt, die alle gleichzeitig zu reden schienen, um sich über die lärmende Geräuschkulisse aus Rock’n’ Roll-Musik der Fünfziger und Sechziger hinweg Gehör zu verschaffen, für die ein Discjockey in einer über dem Speisesaal schwebenden Glaskabine verantwortlich war.
»Hattest du in der vierten Klasse eine beste Freundin?«, fragte Merell. »Ich werde dieses Jahr bestimmt eine beste Freundin haben. Ich werde Mommy fragen, ob meine Freundin bei mir übernachten darf.« Sie rührte mit dem Strohhalm ihren Milchshake um. »Meinst du, sie erlaubt es mir?«
Roxanne würde ihr Monatsgehalt dagegen wetten, und sie vermutete, dass auch Merell ihre Zweifel hatte. Sie versuchte sich vorzustellen, welche Veränderungen in den nächsten Wochen und Monaten auf die Durans zukommen würden, doch es ließ sich unmöglich vorhersagen, wie Johnny auf die Nachricht von Olivias Ausflug in die Notaufnahme reagieren würde. Sie fragte sich, ob Simones Gerede über Trennung und Alicia irgendeine reale Grundlage hatte, oder ob sie es nur erfunden und sich dann eingeredet hatte, es sei wahr. Wie auch immer, es war die Art von Gedanken, die sie ins Trudeln brachte und in einen Abgrund katapultieren konnte. Roxanne legte die Hand auf den Schoß und blickte verstohlen auf ihre Uhr. Merell sollte nicht mitbekommen, dass sie allmählich das Gefühl hatte, sie seien schon zu lange von zu Hause fort.
Merell schob ihren Milchshake beiseite. »Daddy wird richtig wütend werden, wenn er
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