Das Gewicht der Liebe
Jackson, nahm sie eine neue Atmosphäre im Gerichtssaal wahr, eine unterschwellige Erregung, wie Roxanne sie immer vor Tys Marathonläufen oder 10 000-Meter-Rennen verspürte. Wie naiv sie gewesen war, wurde ihr erst in diesem Moment klar: Simones Freiheit und die Zukunft ihrer Familie hatte nur noch einen Dreh- und Angelpunkt, nämlich den Wettkampf zwischen zwei ehrgeizigen Männern, die mit Argumenten jonglierten und für die Gerechtigkeit ein Hindernis und zugleich der Schiedsrichter war.
David Cabot sagte, sie hätten Glück mit Richter Amos, ein großer, barscher, erschöpft aussehender Mann mit einem dichten Schopf dunkler Haare und einem Oberlippenbart, der für sein Gesicht zu groß war. Obwohl er zu Jähzorn und Exzentrik neige, verfüge er über richterliche Vernunft und würde sich nicht von der Brisanz des Falles beeinflussen lassen.
Jackson trat von der Geschworenenbank zurück und deutete mit dramatischer Geste auf Simone. »Die Staatsanwaltschaft wird aufzeigen, dass diese Frau genau wusste, was sie tat, als sie ihre Töchter umzubringen versuchte. Sie plante den Mord an ihnen. Und ihr Plan hätte beinahe zum Erfolg geführt.«
Jacksons Tenorstimme wurde weicher, vertraulicher. »Meine Damen und Herren, die Verteidigung wird Ihnen erzählen, dass Simone Duran zum Zeitpunkt des Verbre chens geisteskrank gewesen sei. Und Sie werden es glauben wollen, weil Sie gute Menschen sind und Simone Duran eine hübsche, sanft aussehende Frau ist. Sie sieht nicht wie ein Monster aus, nicht wahr?«
Jackson sah Simone direkt an, ermunterte die Geschworenen, es ihm nachzutun. Roxanne bemerkte, wie Cabot unter dem Tisch nach Simones Hand griff.
»Lassen Sie sich nicht täuschen. Unsere Beweise werden zeigen, dass dies eine gefährliche Frau ist. Sie ist nicht geisteskrank. Sie ist nie geisteskrank gewesen. Sie wusste, was sie tat, als sie versuchte, ihre Kinder zu töten, und sie muss sich nun den Konsequenzen ihres Tuns stellen.«
Mit seinem kurzen Eingangsplädoyer am Ende angelangt, nahm Jackson seinen Platz wieder ein, und David Cabot, einen Meter fünfundneunzig groß und mit der natürlichen Geschmeidigkeit eines Sportlers gesegnet, ver kündete, er werde mit seinem Eingangsplädoyer warten, bis die Staatsanwaltschaft ihren Fall vorgestellt hätte. Dies führ te in den Zuschauerreihen zu einigem Gemurmel. Cabot hatte die Familie auf diese Abweichung von der üblichen Verhandlungsordnung vorbereitet, ihnen versichert, dass es in diesem Fall strategisch sinnvoll sei.
Der erste Zeuge der Klägerschaft war der für diesen Fall zuständige Chefermittler der Polizeibehörde von San Diego. Er sagte aus, er sei kurz nach dem Notfallteam im Haus der Durans eingetroffen, und vermittelte der Jury dann ein lebhaftes und verstörendes Bild der Szene, die er vor der Garage vorgefunden hatte. Roxanne hatte nicht mehr viele Erinnerungen an diesen Spätnachmittag. Gedächtnislücken seien oft die Reaktion auf ein traumatisches Erlebnis, hatte der Arzt zu ihr gesagt, als sie das Krankenhaus verließ.
Jacksons nächster Zeuge, ein Notarzt, berichtete der Jury über den bedrohlichen Zustand der Mädchen am Tatort. Auf Jacksons Nachhaken hin sagte er, aufgrund sei ner elfjährigen Erfahrung sei er sich sicher, dass Simone und die Mädchen, wären sie nur eine Minute länger dem Kohlenmonoxid ausgesetzt gewesen, dauerhafte Hirnschädigungen erlitten hätten. Ehe Cabot Einspruch einle gen konnte, fügte der Zeuge ungefragt hinzu, Olivias Über leben sei »ein Wunder des Himmels«. Cabot lehnte es ab, die beiden Zeugen ins Kreuzverhör zu nehmen.
Der von der Staatsanwaltschaft bestellte Psychiater und Experte für postpartale Depression, Gerald Frobisher, nahm den Zeugenstand mit unerschütterlicher Würde und Selbstvertrauen ein. Er war ein Mann mittleren Alters, dünn und elegant gekleidet, die Schuhe spiegelblank poliert. Seine aalglatte Erscheinung stieß Roxanne ab. Spontan fiel ihr ein Ausdruck ein, der Gerald Frobisher am besten beschrieb: schmeichlerisch. Jackson fragte Frobisher, was ihn als Sachverständigen qualifiziere, und der zählte eine einschüchternde Anzahl an akademischen Abschlüssen und Titeln sowie Veröffentlichungen in prestigeträchtigen Zeitschriften auf, wobei er sorgfältig darauf achtete, einen zurückhaltenden und bescheidenen Ton anzuschlagen, der Roxanne jedoch nicht eine Sekunde lang überzeugte.
Am Ende von Frobishers langatmiger Zeugenaussage fragte ihn Jackson: »Dr. Frobisher, können Sie
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