Das Gewicht der Liebe

hast das Essen vergessen.«
    Die Kühltasche stand auf dem Teppich, geöffnet.
    »Ich werde euch Hamburger kaufen.«
    »Ja!«, schrien die Zwillinge.
    Ich schaffe das .
    »Wo ist Libias Kindersitz?«, fragte Valli.
    Ich muss es schaffen .
    »Olivia sitzt auf meinem Schoß.« Simone blickte in den Rückspiegel und sah den bestürzten Ausdruck in Vallis Gesicht.
    »Sieh mich nicht so an. Was hast du?«
    Ich werde nicht schnell fahren, dachte Simone, und ich werde auf asphaltierten Straßen bleiben.
    Auf der Rückbank begannen Victoria und Valli zwei verschiedene Lieder zu singen. Eines handelte vom Segeln, eines von Käse. Simones Gedanken hüpften herum wie Wassertropfen in einer heißen Pfanne. Sie würde an der Ausfahrt nach links abbiegen, die Juan Street hinunter nach Old Town fahren, aber was dann?
    Nutzlos .
    »Ich muss Pipi«, rief Victoria. »Ich werde in Daddys Wagen Pipi machen.«
    »Ich muss pupsen«, kreischte Valli. »Ich muss Pupsi und Pipi und Kotzi.«
    Die Zwillinge warfen sich kichernd übereinander.
    Zu dumm für das Leben .
    Simone sah das weitere Leben ihrer Töchter vor sich. Wie sie, Simone, würden sie einfältige, nichtsnutzige Frauen werden. Die Zeit und die Welt würden an ihnen vorbei rauschen, während sie hilflos und zögernd auf der Stelle traten. Die schreckliche Traurigkeit all dessen lief zu einem einzigen nadelspitzen Punkt zusammen, so scharf, dass er ihr das Herz herausschnitt. Sie wusste genau, was sie zu tun hatte.
    Sie erkannte, dass sie das schon immer gewusst hatte.
    Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss, und der V8-Motor des Camaro erwachte brüllend zum Leben.
    Die Zwillinge kreischten, und Victoria schlug wieder gegen das Fenster.
    Das Geräusch des laufenden Motors räumte die letzten Zweifel aus Simones Gedanken, als wäre sie aus dem Nebel in klares Wetter gesegelt. Wo noch Momente vorher Verwirrung gewesen war, herrschte jetzt ruhige Klarheit, und auf dem Meeresgrund war jedes einzelne Sandkorn so präzise umrissen, als hätte sie es mit einem spitzen Stift dorthin gezeichnet.
    Valli jammerte: »Ich mag den Geruch nicht.«
    »Ich lass den Motor warm werden«, sagte Simone, Olivia an ihr Herz drückend, während sie ihren Sitz mithilfe des Hebels zurücklehnte. »Das ist ein altes Auto.«
    »Es stinkt«, sagte Victoria.
    »Mir ist komisch. Mein Kopf tut weh.«
    »Ich muss brechen, Mommy.«
    Die Stimmen der Zwillinge waren süß und klagend wie die Gesänge eingesperrter Vögel. Simone schloss die Augen und stellte sich eine schmale Straße vor, auf beiden Seiten gesäumt von Geschäften mit gelben Vögeln in Wei denkäfigen. Ihre Fingerspitzen prickelten, als sie die Kä fige öffnete und alle Vögel befreite. Ihre Flügel stiegen in den Himmel empor und flatterten wie Segel durch die Lüfte. Olivia lag in Simones Armen, nun endlich still.
    Das ist es, was eine gute Mutter fühlt. Diese Weichheit im Inneren.

15
    März 2010
    S taatsanwalt Clark Jackson war ein tonnenförmiger Mann in den Vierzigern mit kahlem Schädel, umrahmt von einer grau gelockten Tonsur. Am ersten Tag von Simones Verhandlung wegen versuchten Mordes an ihren Töchtern sprang er von seinem Stuhl auf und schritt selbstbewusst durch den Gerichtssaal nach vorne, um den Geschworenen sein Eingangsplädoyer mit einer scharfen Tenorstim me zu präsentieren, die aggressiv und fesselnd zugleich war. In den Zuschauerreihen holte Roxanne tief Luft und versuchte sich zu entspannen. Seit sie aufgewacht war, hatte sie das Gefühl, ein Tennisball stecke in ihrer Kehle – der Sauerstoff kam kaum daran vorbei.
    Jackson machte ihr Angst, weil sie augenblicklich wusste, dass für ihn Strafe genauso wichtig war wie Gerechtigkeit.
    Er lächelte den Geschworenen zu, nahm sie mit seinen Zähnen an die Leine. »Im Namen des Volkes des Staates Kalifornien möchte ich Ihnen für Ihre Bereitschaft danken, in diesem sehr schwierigen und wichtigen Fall als Geschworene zu dienen. Was durch Sie in diesem Gerichts saal entschieden wird, wird in der ganzen Welt aufmerksam verfolgt werden. Doch seien Sie beruhigt. Sie werden keine Probleme damit haben, zu einer gerechten Entscheidung zu gelangen. Die Beweislage wird ohne den Schatten eines Zweifels zeigen, dass Simone des versuchten Mordes in vier Fällen schuldig ist.«
    Die Zwillinge, Olivia und Claire, damals noch ungeboren.
    Als Roxanne von Jackson zu Simones Anwalt, David Cabot, blickte, der am Anwaltstisch auf der anderen Seite der Schranke saß, und dann wieder zurück zu