Das Gewicht des Himmels
von Natalie Kessler, die ein dunkelhaariges Kleinkind in den Armen hielt.
Das Kind war ein Mädchen. Die Rückseite des Fotos war leer, und es war auch nicht datiert. Natalie stand vor einem hohen Fenster, aber der Hintergrund war unscharf, und Finch konnte keine Landschaft erkennen, die ihm einen Hinweis auf den Ort hätte geben können. Er richtete seine Lupe auf Natalie, studierte ihr rundlicher gewordenes Gesicht, ihre langen, geraden, in der Mitte gescheitelten Haare und ihre Kleidung – einen Fransenrock, anscheinend aus Wildleder, und eine mexikanische Bauernbluse. Nur die Mode hatte sich geändert; ansonsten sah die achtundzwanzigjährige Natalie nicht wesentlich anders aus als die siebzehnjährige. Die Pose brachte ihre Kurven, die mit den Jahren nur ein wenig weicher geworden waren, vorteilhaft zur Geltung. Sie war noch immer beunruhigend attraktiv, aber ihre Miene war kalt und abweisend, obwohl sie ein Kind auf dem Arm hielt. Oder machte sie so ein Gesicht, weil das Kind, das sie hielt, von Thomas war?
Das kleine Mädchen sah Thomas ähnlich. Zwar gab es abgesehen von Thomas’ langer Nase und den langen Wimpern wenig gemeinsame Körpermerkmale, aber ihr Gesichtsausdruck war unverkennbar seiner: entschlossen, eigenwillig, intelligent. Dunkle Locken umrahmten ein eckiges Gesicht mit einer hohen Stirn und hohen Wangenknochen und ein paar verstreuten Sommersprossen auf der Nase. Ihr Mund hatte dieselbe Herzform wie der ihrer Mutter, aber auf dem Bild zog das Mädchen einen Schmollmund. Die hellen Augen, von atemberaubend langen Wimpern umgeben, blickten direkt in die Kamera. Dieses Kind wusste, was es wollte. Die Kleine drückte eine Hand gegen Natalies Brust, die andere war zur Kamera hin ausgestreckt, als flehte sie den Fotografen an, sie zu nehmen.
Warum hielt Natalie das Kind im Arm und nicht Alice? Vielleicht wusste Alice nichts von der Aufnahme, vielleicht wollte sie Thomas die Existenz des Kindes ver schweigen und Natalie hatte im Alleingang beschlossen, dass er es erfahren sollte? Aber das passte nicht zu Finchs geistigem Bild von Natalie, ihrer besitzergreifenden Hand auf Thomas’ Schulter in dem Triptychon, ihrem strengen Blick. Er bezweifelte, dass diese Details aus der Fantasie heraus gemalt waren. Sie war der Typ Frau, der Thomas gefiel: auffallend attraktiv und kühl, daran gewöhnt, im Mittelpunkt zu stehen. Frauen, die das Gedränge und Blitzlichtgewitter, das Thomas überallhin folgte, aus eigener Erfahrung kannten.
Alice dagegen schien ein ganz anderes Geschöpf zu sein. Die Alice auf der Fotografie war auf ihre Weise hübsch, sie war schmal gebaut, hatte lange Arme und Beine, eine blonde Mähne und Augen wie Gletschereis. Aber die größere Verlockung bildeten wohl ihr neugierig geneigter Kopf, die Wachheit in ihrem Blick und die Tatsache, dass sie ihre körperlichen Vorzüge nicht bewusst zur Schau stellte.
Alice hatte das Baby mit dreiundzwanzig bekommen. Die Kessler-Mädchen waren zu dieser Zeit auf sich gestellt und so gut wie mittellos gewesen. Wie hatten sie das Kind durchgebracht? Womit hatten sie ihren Lebensunterhalt verdient? Bei seiner ersten Suchaktion im Internet hatte Stephen einen Schuleintrag aufgestöbert, wonach Alice im Jahr 1972, kurz nach dem Beginn ihres Graduiertenstudiums in Ökologie und Evolutionsbiologie, von der Universität abgegangen war. Den Grund für ihren abrupten Studienabbruch hatte er nicht gefunden, aber Finch stellte sich vor, dass die katholische Privathochschule, an der sie immatrikuliert gewesen war, einer ledigen Mutter das Stipendium gestrichen hätte, auch wenn sie noch so intelligent war.
Doch mit dreiundzwanzig war Alice jung und stark gewesen. Sie hatte einen College-Abschluss, sie hätte leichter als viele andere eine Arbeit gefunden. Es wäre kein einfaches Leben gewesen, aber die Welt war voll von ledigen Müttern, die sich irgendwie durchschlugen. Das wäre die eine denkbare Variante gewesen. Die andere war weniger rosig. Sofort musste er an Thomas’ gegenwärtige Lebensumstände denken – schäbige, feuchte, verdreckte Räume, die Entscheidung, ob man die wenigen verfügbaren Dollars für Lebensmittel oder zum Heizen ausgab. Doch obwohl Finch Alice nie persönlich kennengelernt hatte, hielt er sie für verantwortungsbewusst und erfinderisch. Mit einem gesunden Kind und etwas Glück und Unterstützung vonseiten ihrer Schwester war sicherlich alles gut ausgegangen – für alle, nur nicht für Thomas.
Finch machte sich auf dem
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