Das Gewicht des Himmels
Alice Kessler im Hof ihres Elternhauses am Stonehope Way, die schützend ihren Bauch umfasste. Auf der Rückseite standen in flüssiger, lockerer Schrift die Worte: Ich weiß, was du getan hast. N.
Finch stand ruckartig auf und trat mit dem Foto an den Kamin. Er setzte sich auf den ledergepolsterten Schemel und hielt das Bild mit beiden Händen am Rand fest. Panik stieg in ihm auf, und er wünschte sich, er könnte die letzte Minute ungeschehen machen, das Bild in die Karte zurück legen, die Karte in den Umschlag, den Umschlag in den Stapel schieben und weiterblättern, ohne je von der Adresse Notiz genommen zu haben.
Was hatte Thomas zu ihm gesagt? Ich habe dir die Gesellschaft deiner Tochter geneidet. Finch spürte, wie sich eine lastende Trauer auf ihn senkte, und er dachte an Lydia, unfähig, sich ihre Abwesenheit als eine immerwährende Lücke in seinem Leben vorzustellen. Er betrachtete noch einmal den Poststempel – Juni 1972 – und versuchte, sich an das Jahr zu erinnern. War ihm damals irgendetwas aufgefallen, hatte sich Thomas anders als sonst verhalten? Nach kurzer Zeit gab er die Bemühungen auf. Schließlich lag das alles mehr als fünfunddreißig Jahre zurück. Er war in ein Alter gekommen, in dem er sich nur mit Mühe daran er innern konnte, in welchem Zimmer er seine Schuhe stehen gelassen hatte, wie das Passwort für seinen Computer lautete, oder wie seine Studenten hießen, sogar die hübsche Rothaarige mit der tief ausgeschnittenen Bluse, die sich jedes Mal, wenn sie, von einer sinnlichen Duftwolke umhüllt, sein Büro betrat, dicht vor ihm gefährlich vornüberbeugte.
Abgesehen von der Frage nach der Präzision seiner Erinnerung hätte dieser Blick in die ferne Vergangenheit auch die Schlussfolgerung zugelassen, sein Leben und das von Thomas wären eng verknüpft gewesen, sie hätten einander Wichtiges anvertraut, sich gegenseitig um Rat ge fragt und dem anderen innerste Hoffnungen und Ängste offenbart, wenn auch vielleicht nur in dem indirekten männlichen Kommunikationsstil ihrer Generation. Das traf aber nicht zu. Damit hatte sich Finch längst abgefunden, als er vor knapp einem Monat die vielen Treppen zu Thomas’ Wohnung hinaufgestiegen war. Sie waren keine Freunde, nicht im eigentlichen Sinn des Wortes. Ihre Beziehung war bestenfalls symbiotisch, sie brauchten sich gegenseitig.
Und jetzt brauchte Thomas Finch und Stephen, damit sie sein Kind fanden.
Wie alt war Thomas gewesen, als er davon erfahren hatte – siebenunddreißig? War er damals noch immer nicht bereit gewesen, ein Kind in sein Leben zu integrieren? Nach Jahren voller Frauengeschichten und Partys, nach Ausschweifungen, gepaart mit selbst auferlegter Isolation, nach Weltflucht, als ihm alles zu viel wurde, nach einem Comeback und erneuter Beweihräucherung. Und jetzt, schwach und bettlägerig, wollte er auf einmal Vater sein? Finch spürte Claires Hand auf der Schulter und ließ sich gegen sie sinken, wobei er fast das Gleichgewicht verlor. Warum nimmst du an, dass er das Kind nicht gewollt hat, Denny? Kennst du sein Innerstes so genau?
»Ich kann es nicht leiden, wenn du ihn in Schutz nimmst. Besonders jetzt nicht. Warum setzt du dich nicht für mich ein?«
Vermutlich, weil du nichts angestellt hast, was das erfordern würde, du dummer alter Esel.
Das vertraute Kosewort gab Finch den Rest. Seine Sehnsucht nach Claires körperlicher Präsenz drängte alles andere in den Hintergrund. Er wünschte sich verzweifelt, sie zu umarmen; sie sollte neben ihm sitzen, damit er ihre Wange streicheln, den Kopf an ihrer Brust vergraben und den würzigen Geruch der Nelkenseife einatmen konnte, den ihre Haut verströmte. Der ätherische Ersatz, mit dem er stattdessen vorliebnehmen musste, besaß nicht mehr Substanz als ein Windhauch, ein Rauchfähnchen. Er rückte von ihr ab.
Sie rümpfte beleidigt die Nase. Wie du willst . Innerhalb von Sekunden wurde die Luft neben ihm kalt und schwer, und er erschauerte, obwohl er dicht am Feuer saß. Es spielte keine Rolle. Ihre Worte hatten wie immer ihren Zweck erfüllt.
Warum hatte er angenommen, dass Thomas das Baby nicht wollte? Zugegeben, Finch wusste überhaupt nichts, er hatte nur die Fotografie. Er war nicht in Gespräche oder Entscheidungen eingeweiht worden. Seine Annahme grün dete allein auf den Mängeln und Fehlern, die er Thomas über die Jahre hinweg zugeschrieben hatte. Oder hing sie mit seiner eigenen Unsicherheit zusammen? Seinem Bedürfnis, wenigstens in diesem einen Aspekt
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