Das Gewicht des Himmels
der Bessere zu sein – als Vater?
Er nahm die Geräusche im Zimmer wie getrennt von einander wahr: das An- und Abschwellen der Violinen über der Harfe bei der Musik von Vaughan Williams, das Zischen der Flammen auf dem noch feuchten Holz, das er auf das Kamingitter gelegt hatte, den Verkehr von der Straße. Finch warf einen Blick auf die Gegenstände, die sein Leben ausmachten: seine Bücher, die über den Schreibtisch verstreuten Papiere, die Fotos an den Wänden, der Globus in der Ecke, der jetzt immer dieselbe Ansicht zeigte und sich, seit Lydia erwachsen war und ihre eigene Wohnung hatte, nicht mehr um seine Achse drehte. Das Zimmer war klein und muffig, alles darin unbedeutend. Er hatte sich noch nie so einsam gefühlt.
Er zog Baybers Werkverzeichnis aus dem Regal und blätterte, bis er gefunden hatte, was er über Thomas’ Arbeiten des betreffenden Jahres geschrieben hatte:
1972 durchlief Baybers Werk eine weitere Metamorphose, entzog sich jedoch jeder Definition oder der Zuordnung zu einem bestimmten Stil. Elemente des abstrakten Expressionismus, der klassischen Moderne, des Surrealismus und des Neoexpressionismus verbinden sich mit gegenständlicher Kunst zu vollkommen eigenständigen und höchst komplexen Werken, die auf einer unbewussten Ebene sowohl begeistern als auch erschrecken. An ihnen ist nichts Zerbrechliches, nichts Verträumtes. Sie bieten keinen Schutz, weder dem Künstler selbst noch dem Betrachter seiner Werke. Alles ist in einem Zustand der Rohheit, menschliche Werte auf der Leinwand erscheinen abgemildert und zugespitzt. Zwar tauchen in diesen Werken bestimmte Motive auf – oft eine Andeutung von Wasser, die Figur eines Vogels –, und manche Elemente wiederholen sich, doch abgesehen von einer introvertierten Komplexität ist der Kontext, in dem sie erscheinen, in keinem Bild derselbe. Was diese Werke verbindet, ist eine Atmosphäre des Verlusts, des Entschwindens und der Sehnsucht (siehe Abb. 8 7- 95).
Die Figur eines Vogels. Er hatte vergessen, was er selbst geschrieben hatte. Finch trug das Buch zum Schreibtisch und holte eine Lupe aus der obersten Schublade, um die Farbtafeln zu studieren. Thomas hatte 1972 sechs Bilder vollendet, vier davon nach dem Monat Juli. In jedem dieser vier fand Finch das, was er vor langer Zeit entdeckt hatte, die Figur eines Vogels. War das Alice, die ihm entflogen war? Oder sollte der Vogel auf das Kind hindeuten?
Er betrachtete die Gemälde davor und fand nichts. Nach dem Juli 1972 jedoch enthielt jedes Bild, das Thomas gemalt hatte, unabhängig von Stil oder Sujet die Andeutung, wenn nicht gar explizit die Figur eines Vogels. Oft versteckt, selten in einer zentralen Position, und ein paar Mal fragte sich Finch, ob er etwas wahrzunehmen glaubte, was gar nicht existierte, nur weil er es so wollte. Das erinnerte ihn an Wo ist Walter?, ein Buch, das er Lydia vorgelesen hatte, als sie acht war. Wie ein Vögelchen hatte sie auf der Sessellehne gehockt und die Seite abgesucht, um Walter vor ihm zu finden. Wenn einer von ihnen Walter gefunden hatte, sprang er ihnen beim erneuten Lesen des Buches sofort ins Auge, weil sich seine Position auf der Seite unauslöschlich eingeprägt hatte. Finch merkte, dass er Thomas’ Gemälde jetzt auf dieselbe Art studierte; er suchte nur nach dem Vogel und konnte, wenn er ihn gefunden hatte, in allem anderen keinen Sinn mehr entdecken.
Sein Neid verflog, wie so häufig, wenn er an seine Familie dachte. Zudem wurde es immer wahrscheinlicher, dass diese Bitte Thomas’ letzte sein würde. Wenn Finch sich ehrlich und nach Kräften bemühte, Natalie und Alice zu finden, konnte er dieses Kapitel seines Lebens mit reinem Gewissen abschließen. Er nahm die restliche Privatkorrespondenz kurz zur Hand, um zu sehen, ob sie weitere aufschlussreiche Informationen enthielt. Nichts. Doch dann fand sich unter einem Stapel Rechnungen noch ein Umschlag – genauso groß, in derselben Handschrift adressiert. Ein Absender stand nicht darauf, aber er war am 25. Juni 1974 in Manhattan abgestempelt. Die Klappe war geöffnet worden, und er fand eine weitere Doppelkarte mit der Reproduktion eines neueren Werkes von Thomas, bezeichnenderweise einem der »Vogelbilder«, wie Finch sie inzwischen nannte. Das Gemälde zeigte einen Angler an einem grasbewachsenen Flussufer, sein abgetrennter Kopf lag seitlich von ihm auf dem Boden neben einem riesigen Eisvogel mit einem Pfahl zwischen den Flügeln. In der Karte befand sich ein farbiger Schnappschuss
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