Das Gewicht des Himmels
Bekannte. Das ist nicht dasselbe.
»Ich will nur dich. Dich und Lydia. Ich brauche sonst niemanden.«
Du hast mich. Und Lydia wirst du immer haben. Aber du weißt so gut wie ich, dass das nicht dasselbe ist. Claires Erscheinung zerfaserte und löste sich auf. Als würde man eine Glühbirne dimmen.
Er stocherte im Kamin, goss sich ein Glas Burgunder ein und fummelte an dem digitalen Musikplayer herum, den seine Tochter ihm geschenkt hatte. »Five Variants of Dives and Lazarus« war genau die richtige Begleitmusik zu Ar beit am Abend. Sein Schreibtisch war ein Notstandsgebiet, die Post der letzten Wochen lag versteckt unter Stapeln von Ordnern, die Mrs. Blankenship ihm gebracht hatte. Sie enthielten all die über die Jahre hinweg gesammelten Briefe und Zeitungsausschnitte von Thomas, die Finch auf Stephens Vorschlag hin durchforsten sollte. Mit neuem Respekt vor Mrs. Blankenship versuchte er, die Aufgabe nicht nur als eine reine Fleißarbeit zu betrachten, aber beim Durchblättern der merkwürdigen Sammlung aus vergilbten, am Rand zerfledderten Papieren sank seine Laune rapide.
Da waren Ausstellungsankündigungen aus früheren Jah ren, verblichene Pressefotos von Galeriebesitzern und Mäzenen mit Thomas in der Mitte, der oft mit verträumter Miene etwas weit Entferntes zu betrachten schien. Da waren die zu erwartenden Angebote von Dozentenstellen, Einladungen zu Vorträgen und Bitten junger Künstler, die sich anerboten, Leinwände zu ordnen, Bleistifte zu spitzen, Farbeimer zu schleppen – kurz, alles zu tun, um nur einmal dieselbe exquisite Luft zu atmen wie jemand, der, wie es einer der Bittsteller ausdrückte, »ein absolutes Wissen um das Universelle in uns allen besitzt«.
Schwachsinn. Finch rieb sich die Stirn, um den Kopfschmerz zu vertreiben, der sich zwischen seinen Augenbrauen einnistete. Diese Heldenverehrung war strapaziös. Aber was, wenn man sie tagtäglich erlebte? Kein Wunder, dass Thomas zum Einsiedler geworden war. Gewöhnt an ständige Aufmerksamkeit und Lobhudelei, mit Superlativen überschüttet, hatte solche Bewunderung für ihn verständlicherweise irgendwann jegliche Bedeutung verloren, und er hatte den Punkt erreicht, an dem er nur noch allein sein wollte. Musste man, wenn einem eine große Begabung geschenkt war, diesem Geschenk sein Leben lang dienen und konnte nichts anderes mehr tun?
Aber je mehr Thomas sich zurückgezogen hatte, desto stärker hatte er die Menschen fasziniert. Wo lebte er? Wie lebte er? Was inspirierte ihn? Hätte man ihn erfroren in einem Eisblock auf dem Gipfel des Kangchendzönga gefunden, hätten manche wohl nur zu gern sein Gehirn aufgeschnitten, auf der Suche nach den Ursprüngen seines Talents sicherlich. Die Kletten und die Mitläufer, die Möchtegerns und die Abgehalfterten und die, aus denen nie etwas werden würde: Kein vernünftiger Mensch würde sich ein solches Leben wünschen, wären ihm die Konsequenzen klar.
Finch blätterte weiter und versuchte, darin eine Systematik zu entdecken. Rechnungen, die nie geöffnet worden waren. Bankauszüge, ungenutzte Schecklisten, Rezensionen, die Thomas’ verschiedene Agenten über die Jahre weitergeleitet hatten. Briefe, meist mit der Aufschrift »per sönlich« (unterstrichen), in einer offensichtlich weiblichen Handschrift, nur wenige davon geöffnet. Finch überflog sie zerstreut, bis einer ihm ins Auge sprang. Auf einem postkartengroßen Umschlag stand links oben die gedruckte Adresse »Stonehope Way 700, Woodridge, Connecticut.« Das Haus, das er und Stephen gerade aufgesucht hatten. Das Haus der Kesslers.
Der Umschlag war nicht zugeklebt, aber Finch konnte nicht feststellen, ob der Klebstoff bloß nicht mehr haftete oder ob der Umschlag geöffnet worden war. Der Poststempel war kaum noch lesbar, man erkannte nur mit Mühe den 11. oder 17. Juni 1972. Finch zog vorsichtig eine Doppelkarte aus dem Umschlag und legte sie vor sich hin. Sie stammte aus einem Museums-Shop und war die Art Karte, mit der auf eine Wanderausstellung hingewiesen wird. Auf der Vorderseite war eines von Thomas’ frühen Werken abgebildet, ein Ölgemälde von drei Frauen in einem dunklen Flur; sie hielten Eschenzweige in der Hand, die über den Boden schleiften, und ihre Haare strebten in schlangenähnlichen Windungen auf die nur von einer nackten Birne erleuchtete Decke zu. Als er die Karte aufklappte, fiel eine Fotografie heraus. Ihm stockte der Atem. »Thomas«, entfuhr es ihm leise.
Das Foto zeigte eine junge und hochschwangere
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