Das Gewicht des Himmels
sie nicht vermissen. Ergibt diese einfältige Äußerung für dich einen Sinn?«
»Ja.«
»Gut. Dann versuchen wir, Kevin von weiteren Kuppelversuchen abzubringen, ja?«
Sie nickte, noch immer nervös und mitgenommen wirkend. Stephen verspätete sich, und Finch hoffte, dass nicht die Sorge um ihn an ihr nagte. Sie stocherten in ihren Vorspeisen, und Finch trank zu viel Wein. Der bemühte Small Talk am Tisch und das geheuchelte Interesse strengten Finch an. Als Meredith anfing, ihre Serviette zu schreddern, überredete Kevin Lydia, den Hauptgang aufzutragen. Wo zum Teufel blieb Stephen? Das Kerzenlicht ließ den ausgezogenen Esstisch wie eine lange, rechteckige Wasserfläche aussehen. Und obwohl er sich in demselben Raum aufhielt wie die Menschen, die ihm am nächsten standen, empfand Finch eine fast unüberwindliche Distanz zu ihnen.
Als es um acht Uhr endlich an der Tür klingelte und Lydia aufstand, rief Finch ihr verärgert nach: »Wenn sein Kotelett knochentrocken ist, ist er selbst schuld.« Doch dann hörte er, wie seine Tochter erschrocken aufschrie. Sie rannte an ihnen vorbei in die Küche und kehrte mit einer Tüte Tiefkühlgemüse zurück, als Stephen gerade das Zimmer betrat.
»Was um alles in der Welt …« setzte Finch an, aber er ver stummte, als er Stephens Gesicht sah: Die Lippe war eingerissen, ein Augenlid hing herunter, die Haut um Augenhöhle und Wangenknochen war pflaumenblau.
»Es gibt Neuigkeiten«, ächzte Stephen, während er sich auf einen Stuhl fallen ließ.
»Du lieber Himmel, ist alles in Ordnung? Hat man Sie überfallen? Ich rufe gleich die Polizei.«
Lydia drückte die kalten Erbsen gegen seine Wange, und Stephen lächelte Finch mit zugekniffenen Augen an, als sei ihm das allgemeine Interesse die Prügel wert.
»Nicht nötig«, nuschelte er. »Nur ein Missverständnis zwischen mir und einem früheren Angestellten von Mur chison. Wir hatten unterschiedliche Auffassungen darüber, was ein Notfall ist. Wussten Sie, dass manche Leute nicht gerade erfreut sind, wenn man sich am Telefon zu detailliert über ihre speziellen Talente auslässt, besonders dann, wenn der Anruf womöglich aufgezeichnet wird?«
»Fantasieren Sie? Sie haben sich den Kopf angestoßen, oder?«
»Finch«, sagte Stephen und lehnte sich zufrieden aufseufzend zurück, während Lydia an seinem Auge herumtupfte und Kevin und Meredith im Hintergrund abwarteten. »Ich weiß, ich soll jetzt nicht darüber reden. Aber erinnern Sie mich nach dem Essen daran – wir müssen nach Tennessee.«
Nach dem Essen fuhr Finch Stephen nach Hause und bestand darauf, ihn bis zur Wohnungstür zu begleiten, weil er eine Gehirnerschütterung befürchtete. Die Tiefkühlerbsen hatten nur bewirkt, dass Stephens Gesicht etwas langsamer anschwoll, und seine begeisterte Reaktion auf die Entdeckung der Fotos äußerte sich in gelispelten Satzfetzen. Obwohl auch Stephen fündig geworden war, überschüttete er den überraschten Finch mit Lob.
»Ssie ssind ein Chenie, Finch«, zischelte Stephen, der auf einen Stuhl gesackt war. Nach Lydias improvisierter Kältekompresse hatte ihm Kevin mehrere Gläser Brandy eingeflößt, und es war nicht zu übersehen, welche Maßnahme die größere Wirkung gehabt hatte. Finch deckte Stephen mit einer Decke zu, die er auf dem Fußboden des Schlafzimmers gefunden hatte, und stopfte ihm ein Sofakissen unter den Kopf. Stephen blickte angestrengt auf das Foto, das er in der Hand hielt, das Foto von Natalie mit dem Kind. Seine Lider flatterten. »Schornig«, sagte er, auf Natalie deutend.
Das traf ins Schwarze. Finch war verblüfft und ihm fiel ein, was ihn beim ersten Betrachten des Bildes so verstört hatte: die Gewissheit, dass Thomas mit der blutjungen Natalie geschlafen hatte und dass dies für sie etwas ganz anderes bedeutet hatte als für ihn. Das erkannte man ohne Weiteres an ihrem Blick, ihrem Mund, ihrer Haltung und der Position ihrer Finger auf Thomas’ Schulter. Er gehört mir .
Und doch war Alice die Mutter von Thomas’ Kind. Finch entwand das Foto vorsichtig Stephens Griff. Er betrachtete es aufmerksam, sah Natalies kalten Blick, ihre beherrschte Miene, und fragte sich, ob sie eine Möglichkeit gefunden hatte, beide zu bestrafen.
12
A lice wachte auf der Couch auf, auf der zuletzt Frankie gelegen hatte, und fühlte sich verbogen und steif wie ein rostiges Stück Draht. Eine fahle Wintersonne erhellte das Zimmer. Am Abend zuvor hatte sie stundenlang über den Papieren gebrütet, die auf dem
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