Das Gewicht des Himmels
und ich haben fast unser ganzes Leben gegeneinander gekämpft, Phinneaus. So hat sich das eben zwischen uns entwickelt. Anfangs war es anders.«
»Aber was ist es denn dann, was du mir nicht zu sagen wagst?«
Er forderte sie auf, sich zu häuten, die dunkelsten Teile ihres Wesens zu offenbaren. Jahre der Verunstaltung hatten sie darauf konditioniert, dass Menschen sich abschätzig verhielten. Ihre dreisten Blicke störten sie nicht mehr, sie starrte einfach zurück. Sollen sie doch sehen, dass das Quergewölbe ihrer Füße sich gesenkt hatte und die Zehen verkrümmt waren! Sollen sie doch ihre deformierten Hände anglotzen – die schwanenhalsförmigen Finger, die gabelförmigen Handgelenke, wie sie ihren baufälligen Zustand gerne launig beschrieb. All das war erträglich, wenn sie ein untadeliges Wesen vortäuschen konnte, das von keinem ge meinen Gedanken, keinem boshaften Wunsch besudelt war.
Sie senkte den Blick auf ihre Hände, in die sich seine Fingerspitzen locker eingefädelt hatten. »Es ist verführerisch, Natalie die Schuld an allem zu geben. Aber sie hat mich nicht gezwungen zu bleiben. Es war einfach leichter, vor allem Angst zu haben. Ich hatte mich daran gewöhnt, mir von anderen alles abnehmen zu lassen, und irgendwann habe ich gar nicht mehr versucht, etwas aus eigener Kraft zu machen. Wie könntest du – wie könnte irgendjemand – mit so einem Menschen zusammen sein wollen? Aber Natalie ist geblieben. Natalie war immer bei mir.«
»Das bessere Übel.«
»Ich habe immer gehofft, dass uns hinter all dem etwas verbindet, dass wir uns aufeinander verlassen könnten. Dass wir einander eigentlich lieben. Inzwischen glaube ich das nicht mehr. Vielleicht haben die langen Jahre alles in Eifersucht und Hass verwandelt.«
»Es gibt kein Gesetz, das vorschreibt, dass du deine Verwandtschaft lieben musst, Alice.«
»Ich weiß nur, wir haben uns gegenseitig den besten Vorwand geliefert, alles zu vermeiden, wovor wir Angst hatten. Vielleicht hast du recht, vielleicht habe ich noch nicht begriffen, was geschehen ist. Ich weiß nur, dass ohne sie alles aus dem Gleichgewicht geraten ist.«
Die nächsten Sätze flüsterte sie in sein Hemd, um ihre Bedeutung abzuschwächen. »Die Chancen standen nie gut, dass ich übrigbleiben würde. Es ist schrecklich, wenn man feststellt, dass niemand mehr da ist, der einen von Anfang an gekannt hat, niemand, der sieht, was aus einem geworden ist, im Guten wie im Schlechten.« Sie spürte, dass sich Natalies Schatten wie ein Staubschleier aus dem Zimmer zurückzog. »Sie tut mir leid, Phinneaus. Es tut mir leid, dass sie nie bekommen hat, was sie wollte. Vielleicht wäre sie sonst ein anderer Mensch gewesen. Und ich auch.«
Sie nahm etwas sehr Hässliches wahr, aber diesmal hatte es nichts mit ihrem Körper zu tun, sondern ähnelte einem schwarzen Loch, das sie von innen her verschluckte. »In jenem Sommer am See ist etwas geschehen. Ich habe Natalie dafür die Schuld gegeben, wenigstens zum Teil. Sie stand immer im Zentrum der Aufmerksamkeit, alle wollten etwas von ihr. Als ich herausfand, was sie getan hatte, kam der Hass von ganz alleine. Aber wenn man als Kind glaubt, dass man jemanden hasst, hat das nicht so ein Gewicht, oder? Man versteht erst später, wozu Menschen wirklich fähig sind.«
»Deshalb soll sie jetzt schuldlos sein?«
Alice schüttelte den Kopf. »Nein. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass ich mit ihr nicht tauschen wollte, nicht einmal ihr Aussehen und ihre Gesundheit wären es mir wert gewesen. Niemand nahm sie ernst. Natalie war so hübsch – was brauchte sie da sonst noch? Durch diese ganze Aufmerksamkeit war ihr Leben auf gewisse Weise vorherbestimmt. Undenkbar, dass sie mittags ihren Lunch aus einer Papiertüte aß oder mit dem Bus fuhr oder sich eine enge Dachwohnung mit vier anderen Mädchen teilte. Und die Bedingungen des Fonds, den unsere Eltern eingerichtet hatten, waren eindeutig. Es ging um keine große Summe, aber das Geld sollte für meine ärztliche Behandlung verwendet werden, und Natalie war die Treuhänderin. Sicher wollten meine Eltern damit erreichen, dass ich ihr nicht zur Last fiel, aber sie gingen eben davon aus, dass sie heiraten und über eigene Geldmittel verfügen würde. Und so waren wir beide aneinandergekettet. Mir kam es immer so vor, als würde mein halbes Leben ihr gehören, aber vielleicht hatte sie auch das Gefühl, dass sie meine Krankheit zur Hälfte mittragen musste. So vieles in ihrem Leben kreiste um
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