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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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mich, um das, was ich konnte und nicht konnte.«
    Alice richtete sich auf und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Dann habe ich es noch schlimmer gemacht. Ich hatte etwas, was Natalie nie haben konnte. Niemals. Das konnte sie mir nicht verzeihen.«
    »Was meinst du damit?« Seine Finger malten unter dem dichten Haar sanft Kreise auf ihren Nacken. Eine Tür sprang auf, und sie schlitterte zurück in die Vergangenheit. Alles raste an ihr vorbei, als säße sie in einem Rennwagen, der rückwärtsfuhr.
    »Ich hatte angefangen zu studieren und fuhr in den Weihnachtsferien nach Hause. Natalie war mit einem Mann verlobt – ich weiß nicht mehr, mit wem, bin nicht mal sicher, ob ich ihn überhaupt kennengelernt habe. Und dann war die Verlobung plötzlich gelöst. Niemand hat mir erklärt, warum. Ich weiß noch, wie ich mit meiner Mutter in der Küche saß und Natalie an der Spüle stand. Sie starrte ins Wasser und wusch immer wieder und wieder denselben Teller ab. Schließlich sagte sie, es sei alles ein Irrtum gewesen, sie hätten beide nicht gewusst, was sie wollten. Schwamm drüber.
    Später habe ich Natalie und meine Mutter in Natalies Schlafzimmer belauscht. Ich hatte meine Medizin unten gelassen, und als ich wieder hochkam, sagte Natalie gerade, sie hätte es ihm nie erzählen dürfen, sie habe ja gewusst, dass kein Mann sie nehmen würde, wenn er es herausfände. Meine Mutter sei schuld. Sie und mein Vater. Sie klang so verzweifelt, ihre Stimme ging mir durch und durch. Meine Mutter kam weinend aus dem Zimmer. Sie sah mich an der Treppe stehen und scheuchte mich weg.
    Am nächsten Morgen war ich beim Packen, als meine Mutter in mein Zimmer kam und sich neben den Koffer aufs Bett setzte. Sie fing an, meine Kleider zu falten, wie früher. Lange sagte sie gar nichts. Dann nahm sie auf einmal eine meiner Blusen und presste sie zitternd gegen den Mund, mit Tränen in den Augen. Sie wollte nicht, dass ich sie tröstete. Als sie sich wieder gefasst hatte, erzählte sie mir, dass Natalie vor Jahren eine Infektion gehabt habe und keine Kinder bekommen könne. Sie sprach so leise, dass ich sie kaum verstand. Dann faltete sie meine Bluse zusammen und strich sie mit dem Handrücken glatt. ›Wenigstens dazu bin ich gut, nicht wahr?‹, sagte sie. Sie legte die Bluse in den Koffer und ging hinaus. Wir haben nie wieder darüber gesprochen. Ein knappes Jahr später war sie tot.«
    Alice nippte an ihrem Kaffee, der kalt und bitter geworden war, und zwang sich, das Gebräu hinunterzuschlucken. »Natalie muss sich bei ihrer Abtreibung eine Infektion zugezogen haben. Heute verstehe ich besser, warum sie solche Gefühle entwickelte. Es lag nicht nur an meiner Arthritis.«
    »Du meinst, weil du schwanger wurdest?« Phinneaus hielt ihre Hand noch immer. Alice schloss die Augen und wandte sich ab, um ihm die Chance zu geben, sie loszulassen.
    »Ja.«
    »Und das andere Bild? Das von dir?«
    Sie fühlte sich wie ein verletzter Vogel in einer geschlos senen Kiste: gefangen im Dunkeln. Sie konnte nichts sehen. Nur ihr Herz pochte wie wild und schien fast ihre Brust zu sprengen, als wollte es auf und davon fliegen. Doch da war diese Hand, die sie vorsichtig und sehr sanft festhielt, um nicht noch mehr Schaden anzurichten. Sie spürte die Berührung kaum und fragte sich, ob sie nicht doch allein war und sich Phinneaus’ Gegenwart nur einbildete, aber dann hörte sie ihn etwas murmeln und war beruhigt. Sie holte tief Luft.
    »Ein Sturm zog auf.«
    Sie waren zu dritt in der Dachkammer und versuchten, nicht auf den Wind zu horchen, der das Haus fortreißen wollte. Er wollte herein. Wie ein tollwütiges Tier kreischte und stöhnte er, bewarf sie mit allem Möglichen – mit Backsteinen, mit Bäumen, was immer er fand. Sie hörte, wie die Nägel quietschend aus dem Holz gezerrt wurden und das Wasser gegen die Fundamente klatschte, so als hätte sich das Gebäude schon losgerissen, als trieben sie hilflos davon.
    Den ganzen Vormittag hatte das Radio über den grimmigen Weg des Wirbelsturms Agnes berichtet: Erst war er ein Hurrikan, dann nur noch ein Tiefdruckgebiet und dann wieder ein Tropensturm, als er auf ein außertropisches Tief traf und sich über Pennsylvania entlud. Der Genesee, der Canisteo und der Chemung traten über die Ufer, der Chesapeake und der Susquehanna schwollen zu reißenden Strömen an, und der Sturm drohte sogar den Conowingo-Damm zu zerstören; er riss Bahngleise mit sich, dann Häuser, dann Menschen. Aber er hätte nie

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