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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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gewesen, Alice.« Er streichelte ihre Haare, und die wirbelnden Erinnerungsfetzen fügten sich wieder zusammen und zogen sich an ihren üblichen Ort zurück, in sichere Entfernung, wo ihre Konturen im Lauf der Jahre verwischt waren.
    »Als ich wieder aufwachte, lag ich im Krankenhaus.« Sie erinnerte sich an ein Zimmer mit grellweißen Wänden, die das Licht reflektierten. »In dem Bett neben mir lag eine alte Frau, deren Bein eingegipst war. Sie hat im Schlaf geweint. Ich habe sofort verstanden, was das bedeutete – ich lag nicht in der Geburtsabteilung.« Sie hatte nach dem Baby gefragt, und die junge, unerfahrene Schwester hatte einen Moment lang den Blick abgewandt, um ihre Mimik unter Kontrolle zu bringen. Dann hatte sie lächelnd ihre Bettdecke festgesteckt. Gleich kommt jemand, der mit Ihnen sprechen wird.
    »Danach wollte ich nur noch schlafen. Ich war gierig nach Schlaf. Die Ärzte waren sehr freigiebig mit ihren Medikamenten.«
    Sie entzog Phinneaus ihre Hände und vergrub sie in den Taschen seiner Jacke. Die Berührungen, die Geschichten – es war ihr alles zu viel. Das Sonnenlicht fiel schräg durch die Fenster. Es war später Nachmittag geworden.
    »Natalie hat mir dann zu Hause alles erklärt. Sie saß auf einem Stuhl an meinem Bett, ihre Hände lagen auf den Seitenlehnen. Sie hat mich nicht angefasst. Sie hat mir gesagt, dass das Baby schon tot gewesen sei, als Therese es entbunden habe. Ich sagte, ich hätte es aber gesehen. In den Armen gehalten. Es hätte sich bewegt. Natalie schüttelte immer nur den Kopf.
    Du glaubst nur, dich zu erinnern, weil es dir so lieber wäre, Alice.
    Aber ich habe sie gehört. Ich habe Sophia in der Dachkammer schreien hören.
    Nur, weil du dir das gewünscht hast.
    Natalie hatte schon alles geregelt. Sie fuhr mit mir am nächsten Tag zum Friedhof und zeigte mir das Grab unter einer Eiche. In der Nähe stand eine Bank. Ich hätte mich gerne dort hingesetzt, aber es regnete so stark, dass wir nicht aus dem Auto aussteigen konnten. Sie sagte, sie habe etwas für den Grabstein ausgesucht, den Anfang eines Verses aus Psalm 84 – ›Auch der Vogel hat ein Haus gefunden‹. Ich habe ihn nie gesehen, der Grabstein war noch nicht fertig.«
    »›… und die Schwalbe ihr Nest‹. Das war ein Lieblingspsalm meiner Mutter.«
    »Ich fand es lieb von ihr, dass sie etwas ausgesucht hatte, was mir etwas bedeutete. Ich war ihr dankbar dafür. Als wir wieder zu Hause waren, gab sie mir meine Medizin und sah zu, wie ich sie nahm. Während ich wegdämmerte, erzählte sie mir, dass sie das Haus verkauft habe. Dass wir in zwei Tagen umziehen würden.«
    Phinneaus stand auf, ging zum Eckfenster und blickte hinaus in den Garten. Er legte die Handflächen gegen das Glas, und sein Atem schlug sich als opaker Nebel auf der Scheibe nieder. Seine Silhouette war eine Säule, die den ganzen Raum trug.
    »Was ist mit dem Vater? Hat er es gewusst?«
    Auf diese Frage hatte sie gewartet. Sie ließ den Kopf hängen und antwortete nicht. Dann stand sie auf und trat neben ihn ans Fenster. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und drückte sie ein wenig, bis er ihr das Gesicht zuwandte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. Er hat nie etwas davon erfahren.« Sie ließ ihn los. »Hasst du mich jetzt?«
    Er mied ihren Blick, aber er schüttelte den Kopf. »Nein. Aber wenn ich der Vater gewesen wäre, hätte ich es wissen wollen.«
    »Er war nicht wie du.« Das war nicht die Vergebung, auf die sie gehofft hatte, aber sie hatte nichts anderes verdient. »Ich weiß nicht, was er dazu gesagt hätte, aber ich hätte ihm die Chance geben müssen, es mir zu sagen.«
    »Ich verurteile dich nicht, Alice. Du hattest sicher deine Gründe.«
    »Ich bin nicht mehr dieselbe wie damals.«
    »Das ist keiner von uns.« Er nahm sie in die Arme, und sie lehnte sich an ihn, überwältigt von Müdigkeit, kaum noch imstande, sich auf den Beinen zu halten. Hier könnte ich bleiben, dachte sie, mich nie wieder von der Stelle rühren, und ich wäre glücklich .
    »Was ist mit dieser anderen Frau? Wie hieß sie – Therese?«
    Sie legte den Kopf in seine Halsbeuge. »Nach der Sturmnacht habe ich sie nie wieder gesehen. Natalie hat sie weggeschickt. Angeblich, weil sie glaubte, dass ich sie nicht mehr sehen wollte. Nach allem, was passiert war.«
    »Wie hieß Therese mit Nachnamen?«
    »Irgendwas mit G. Garza, glaube ich.«
    »Hat sie lange bei euch gearbeitet?«
    »Seit ich als junges Mädchen krank geworden bin. Nach meiner

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