Das Gewicht des Himmels
strichen bewundernd über die Federn des Truthahns oder das Fell des Sumpfbibers. Und er war ein aufmerksamer, unvoreingenommener Zuhörer; sie wusste nie genau, was er dachte, bevor er den Mund aufmachte.
»Ich nehme dich als gegeben hin«, sagte sie.
»So ist es.«
Es erschreckte sie, dass er so bereitwillig zustimmte. »Aber das will ich nicht.«
»Alice, wenn es wegen Natalie ist …« Er verstummte, und sie merkte, dass er nach der richtigen Formulierung suchte. »Ich gehe nirgendwohin. Frankie und ich, wir sind immer noch da.«
Seine Wortwahl gab ihr zu denken. Frankie und ich . Er hatte ihnen beiden eine dritte Person als Sicherheitsnetz zur Seite gestellt, auch wenn es sich dabei nur um einen achtjährigen Jungen handelte.
»Du bist der Letzte, der geblieben ist, Phinneaus. Du kennst mich länger als irgendjemand sonst, abgesehen von Saisee, und du kennst mich besser als sie.«
»Da gibt es noch andere außer mir.«
Thomas. Von der Sekunde an, in der sie das Negativ gesehen hatte, war er wieder an ihrer Seite gewesen, wie ein altes Gespenst, wie ein Schatten, der an ihrer Haut klebte. Sie konnte ihn nicht abschütteln. Sie glaubte, sein trocke nes Lachen zu hören, spürte seinen Atem am Rücken und erschauerte. Seine Finger strichen über ihre Lippen, seine geflüsterten Worte wärmten ihren Nacken, der hochprozentige Brandy brannte in ihrer Kehle und trieb ihr Tränen in die Augen. Phinneaus hatte ihr den Streifen Negative gegeben und keine einzige Frage gestellt, und von sich aus hatte sie keine einzige Antwort gegeben. Hatte sie sich die rasch unterdrückte Enttäuschung in seinem Blick nur eingebildet? Nein. So einen Blick kannte sie von ihm nicht, und nun würde sie ihn schnell wieder vergessen müssen.
Thomas war eine Ewigkeit her. Sie hatte die Erinnerungen an ihn und das Sommerhaus von allem abgespalten, was später kam. Sie hatte sich eingeredet, sie hätte ihm einen Gefallen getan, dass er es nie erfahren hatte, dass sie sich nie hatte überwinden können, ihn zu suchen und ihm davon zu erzählen. Sie wusste nicht, was aus ihm geworden war. Phinneaus hatte ihr den Rettungsring zugeworfen und sie aus ihrem Kummer herausgezogen; Phinneaus hatte sie in ein anderes Leben gelockt, vorsichtig, Schritt für Schritt; Phinneaus hatte ihr das Gefühl gegeben, dass ihr Beitrag, so klein er ihr auch vorkam, wertvoll war. Und Phinneaus saß ihr jetzt gegenüber, starrte auf den Teppich, und seine Schultern hoben und senkten sich so sachte, dass sie wusste, er wartete mit angehaltenem Atem auf ihre Erklärung.
»Ich kenne ihn nicht, Phinneaus. Nicht mehr. Nicht mehr, seit wir hergekommen sind.«
»Das geht mich nichts an.«
Er stieß die Worte zu schnell, zu beiläufig hervor, und wenn er sie auf diese Weise verletzen wollte, hatte er sein Ziel erreicht. Sie rollte den Becher zwischen den Händen hin und her und ließ die Wärme auf ihre Finger einwirken, bis sie sie ein wenig beugen konnte. Ich kann das nicht, dachte sie. Ich will nicht dahin zurück und mich an alles erinnern, nicht einmal dir zuliebe . Er rutschte auf seinem Stuhl herum, und Alice sah – als hätte er sich auf einmal in Luft aufgelöst –, wie ihr Leben ohne ihn aussehen würde. Seine Abwesenheit würde schwerer auf ihr lasten als die von Natalie und ihren Eltern zusammengenommen. Die Panik, die dieser Gedanke auslöste, war unerträglich, und sie wollte ihm sagen, dass es ihn natürlich etwas anging, ihn mehr als sonst jemanden.
»Ich habe dir noch nicht gedankt.«
»Ich mache dir jederzeit mit Vergnügen eine Tasse Kaffee, Alice.«
Er machte es ihr nicht leicht. Also gut. Sie konnte auch stur sein. »Ich meine, dass du letzte Nacht bei mir geblieben bist.«
Er zuckte die Achseln. »Die Entdeckung mit dem Haus und Natalie, und dann der ganze Kram, den du durchsehen musstest. Das alles auf einmal, das kam mir ziemlich hart vor. Ich hielt es für besser, wenn du nicht allein bist.« Er rieb sich die Knie, ein sicheres Zeichen seiner Unsicherheit. »Sie ist noch nicht lange tot, Alice. Vielleicht hast du das Ganze noch nicht so recht begriffen. Aber ich mache mir Sorgen, was passiert, wenn es schließlich so weit ist.«
Die Zärtlichkeit, die sie noch Sekunden vorher für ihn empfunden hatte, wich dem Ärger. »Ich bin dir nicht traurig genug, willst du mir das sagen? Wärst du glücklicher, wenn ich mich ganz in Schwarz kleide? Kommt es dir seltsam vor, dass ich nicht heulend am Boden liege oder mir die Kleider zerreiße?
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