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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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so weit nach Norden vordringen sollen.
    Natalie setzte Therese unter Druck, die drauf und dran gewesen war, ihre langjährigen Schützlinge im Stich zu lassen und in eine höher gelegene Gegend zu flüchten. Gemeinsam hatten sie Alice mit Müh und Not die Treppen hochgeschafft, als sie merkten, dass Wasser in den Keller eindrang. Alice lag, von zwei Kissen gestützt, auf einer dünnen Steppdecke und fühlte den feuchtwarmen Luftzug, während Natalie im Dunkeln hin und her lief, weil es längst keinen Strom mehr gab. Sie versuchte, sich auf ihren keuchenden Atem zu konzentrieren, denn alles war besser als das gnadenlose Heulen des Sturms.
    »Du musst den Arzt rufen!«
    Natalies schweißnasse Haare waren zu einem Knoten geschlungen, und im milchigen Licht der Taschenlampe sah Alice ihr hochrotes Gesicht. Natalie wischte sich die Stirn, hockte sich neben Alice und zog ihr die Decke über den Bauch. »Und wie soll ich das machen, Alice? Draußen tobt ein Wirbelsturm. Hör mir zu.« Sie wehrte Alices Hände ab, die nach ihr griffen. »Nein, hör mir zu. Die Telefonleitungen funktionieren nicht mehr. Niemand kommt. Wir sind allein.«
    Ihr Rücken fühlte sich an, als würde er jeden Moment in Stücke brechen. Ihr Inneres stand kurz davor zu explodieren, und ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Ja, gut so. Dann zerspringe ich eben in eine Million kleine Teile, solange es nur dem Baby gut geht .
    »Natalie, versprich mir etwas.« Sie lenkte all ihre verbleibende Energie in ihre Hand und krallte sich mit letzter Kraft an den Arm ihrer Schwester, während die nächste Wehe sie überfiel. »Lass nicht zu, dass dem Baby etwas passiert. Versprich mir das.«
    »Sei still. Therese kennt sich aus. Sie hat das schon mal gemacht, stimmt’s, Therese?« Therese nickte, aber ihr Blick war starr vor Angst. Alice sah, dass Natalies gespreizte Finger um Thereses Oberarm lagen, sodass sie alle drei miteinander verbunden waren. Wir sind wie diese Plastikäffchen, die man ineinanderhakt, dachte sie noch, bevor sich ihr Bewusstsein trübte.
    »Versprich es. Kaboutermannekes .«
    »Alice.« Natalie packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Hör auf, so einen Mist zu reden, oder ich drehe durch. Ich kann nicht mehr klar denken.«
    »Lass unsere Seelen nicht in die Irre gehen. Versprich mir das.«
    »Du musst dich aufsetzen. Beiß hier drauf und lass meinen Arm los.«
    Natalie kniete sich hinter sie und stützte sie, und sie spürte ein feuchtes Tuch im Mund, das nach Medizin schmeckte. Etwas rann in ihre Kehle und brannte wie Alkohol. Thereses Hände glitten unter der Decke über ihren Bauch.
    »Nicht pressen, bis Therese es sagt, Alice. Hörst du mich?«
    Sie nickte und biss fest auf das Tuch.
    »Tijeras«, verlangte Therese. Eine Schere .
    Alice fuhr auf und wollte fliehen, vor ihnen, vor allem, griff nach allem, was in der Nähe war.
    Natalie holte aus und schlug sie ins Gesicht. »Verdammt, Alice«, schrie sie, »die ist für später. Für die Nabelschnur. Beruhige dich endlich. Du wirst noch dem Baby schaden, wenn du so weitermachst. Kapiert?«
    Alice durchzuckte ein stechender Schmerz, der eigene Zähne und einen eigenen Atem zu besitzen schien, und dann folgte ein grässliches Knacken in ihrem Schädel, das wie eine Kugel ihr Rückgrat entlangschoss und sämtliche Nervenenden entflammen ließ. Ihr Körper brannte wie heiße Kohlen, orangerot, weiß glühend, fing an zu zittern, als wollte er sich von seinem Mittelpunkt lösen. Eine andere Kraft hatte jetzt das Kommando übernommen, eine Kraft, die sie verbog und krümmte und in ihr aufstieg, bis sie mit einem Heulen, das dem des Sturms in nichts nachstand, aus ihr herausbrach. Das Haus stürzt ein, dachte sie. Das Haus stürzt über uns zusammen . Und obwohl sie genau wusste, dass ihre Augen offen waren, sah sie um sich herum nur Schwärze.
    »Ich habe ein Mädchen zur Welt gebracht.«
    Sie war in einer Zeitschleife gefangen. Phinneaus wiegte sie rhythmisch wie ein Metronom; seine Arme boten eine sichere Zuflucht vor dem Bannkreis der Dachkammer, der an ihr zerrte. Der Sturm war vorüber, der Wind nur noch ein leises Geflüster. Sie verstand nicht, was gesprochen wurde, die Worte waren zu verwaschen und undeutlich, aber es gab jemanden, der sie brauchte. Sie hörte den spitzen Schrei eines Vogels, dann nichts mehr.
    »Ein Mädchen. Sag mir, wie du sie genannt hast.«
    »Ich wollte sie Sophia nennen.«
    »Sophia Kessler. Der Klang gefällt mir. Du wärst eine gute Mutter

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