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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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Dass ich kein Valium und keine Stärkungsmittel brauche? So denken doch die Leute von hier, oder?«
    Die Adern an Phinneaus’ Hals schwollen an, und er presste vor Wut die Zähne zusammen. Er stand auf und ging erregt im Wohnzimmer auf und ab. »Ich weiß nicht, für was ich dich lieber erwürgen möchte. Für die Tatsache, dass du deine Gefühle jemand anders zuschiebst, weil du mit ihnen nicht klarkommst – in diesem Fall gleich einer ganzen Stadt –, oder dass du dich nach fünfunddreißig Jahren immer noch zur Außenseiterin stilisierst, die auf ihrer eigenen kleinen Insel lebt. Ein bisschen mehr kannst du uns schon zutrauen, Alice. Wir Leute von hier, wie du es so zartfühlend formulierst, mögen deinen Ansprüchen an feine Lebensart nicht genügen, aber ich glaube, wir wissen sehr wohl, dass Menschen auf unterschiedliche Weise trauern. Wenn du ausnahmsweise einmal aufhören würdest, dir vorzustellen, was alle denken, und dich wirklich auf jemanden einlassen würdest, könntest du womöglich überrascht feststellen, dass die Leute Verständnis haben. Du bist nicht der einzige Mensch auf der Welt, dem ein anderes Leben zugemutet wird, als er es sich vorgestellt hat.«
    »Denkst du das über mich? Dass ich mir selbst leidtue? Du weißt, dass das nicht stimmt.« Sie hatten sich noch nie richtig gestritten, und jetzt stand der Zorn wie eine flammend rote Mauer zwischen ihnen. Sie schob trotzig das Kinn vor. »Ich stehe Menschen nahe. Ich bin Saisee nahe. Ich bin Frankie nahe.« Sie blickte durch das Fenster auf den traurigen Garten, die erfrorene, stille Welt da draußen, in der sogar die Vögel stumm, wie aus Eis geschnitzt, auf den Zweigen hockten. Was täte ich nur ohne dich, Phinneaus?
    »Ich bin dir nahe.«
    »Bist du das?« Er wandte sich von ihr ab und murmelte: »Verflucht, Alice. Wann hörst du endlich auf, so zu tun, als hätten wir endlos Zeit?«
    Das war eine ehrliche Frage. Sie hätte die Zeit gern zurückgedreht, den Tag noch einmal neu begonnen, mit der Sekunde, in der sie die Augen aufgeschlagen hatte. Aber jetzt hatten sie Dinge gesagt, die das unmöglich machten. Sie drückte den Becher gegen die Brust. Er sagte nichts mehr, kam aber zur Couch und setzte sich neben sie. Sie spürte die Wärme, die er ausstrahlte und die sie einhüllte, und ohne es zu wollen, legte sie den Kopf an seine Schulter und fühlte sein kratziges Hemd an ihrer Wange, handfest und real. Würde er bleiben, wenn er wüsste, dass sie fähig war zu hassen? Dass sie manchmal vor lauter Groll nicht mehr klar denken konnte? Würde er je wieder mit ihr reden wollen, oder würde er Frankie nehmen und weggehen und sie einsamer zurücklassen, als sie es in ihrer ersten Zeit hier gewesen war?
    »Heb die Hand hoch.« Er ergriff sanft ihre Hand und hielt sie vor sich. »So. Beug das Handgelenk und streck die Finger und den Daumen nach oben. Halt sie fünf Sekunden lang so. Tut das weh?«
    Sie schüttelte mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf, ließ die Hand aber oben.
    »Lügnerin. Das reicht. Wir wiederholen es später noch mal.«
    Als sie ihn fragend ansah, sagte er nur: »Du hast deine Übungen nicht gemacht. Du weißt, dass du jeden Tag üben solltest, wenn du kannst.«
    »Ich hätte gelegentlich gerne einen Tag, an dem ich nicht ständig daran erinnert werde, was ich nicht kann. Außerdem wachsen Physiotherapeuten nicht auf Bäumen.«
    »Du hattest schon mehrere dieser gelegentlichen Tage hintereinander, scheint mir.«
    Sie unterhielten sich weiter, blieben dabei aber krampfhaft auf sicherem Terrain: ihre Krankheit, der Geldmangel, der sie zum Haushalten zwang. Aber er ließ ihre Hand nicht los, und Alice spürte, dass als Gegenleistung etwas mehr von ihr gefordert war – ein Zugeständnis oder eine Beichte, die bewies, dass sie ihm vertraute, dass sie ihm ihre dunkelsten Seiten offenbaren würde.
    »Ach, Phinneaus, was wirst du nur von mir halten?«
    »Du weißt längst, was ich von dir halte«, flüsterte er in ihre Haare hinein. Die Zärtlichkeit in seiner Stimme ging ihr zu Herzen. »Ich habe doch gesehen, wie sie dich behandelt hat, und ich hätte es unterbinden müssen. Sie hat dich ständig im Ungewissen gehalten, was das Geld und deine Krankheit betraf. Genau, wie ich mir damals als Soldat eine passende Waffe aussuchte, hat sie mit Bedacht Worte ge wählt, mit denen sie dich niederknüppeln konnte. Aber mei ner Meinung nach war sie es, die Angst hatte. Ich glaube, sie wusste nicht, wer sie ohne dich war.«
    »Natalie

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