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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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Tisch verstreut lagen, und eine Erklärung gesucht, die ihr half, diese neue Information mit dem Gewebe ihrer Vergangenheit zu verflechten. Zuletzt hatte sie aufgegeben, aus den Armen ein Nest geformt und den Kopf hineingelegt, zu müde, um auf die Büroklammern zu achten, die Abdrücke auf ihrer Wange hinterließen. Sie gab sich dem Sog der Erinnerung hin und ließ sich von ihm in eine dunkle, traumlose Besinnungslosigkeit ziehen.
    Phinneaus’ olivfarbene Jacke lag noch über ihren Schultern, und sie kuschelte sich hinein, die Nase gegen den Kordsamtkragen gedrückt, der nach seiner Rasiercreme roch. So konnte sie noch ein Weilchen länger die Welt ausblenden.
    Phinneaus saß auf einem Stuhl auf der anderen Seite des Zimmers und beobachtete sie.
    »Wie spät ist es?«
    »Du hast den Vormittag verschlafen. Es ist schon fast eins.«
    »Warst du die ganze Nacht hier?« Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Du musst nicht bleiben, Phinneaus. Es geht mir gut.«
    »Ich weiß.«
    »Gibt es Kaffee?«
    »Nicht gerade ein Frühstück für Helden, aber gut, Kaffee und Pillen werden gleich serviert. Vielleicht Eier dazu?«
    Eier. Ihr Magen verkrampfte sich, und sie verzog angewidert das Gesicht. Die Besorgnis vom gestrigen Abend war, kaum hatte sie die Augen geöffnet, gleich wieder da gewesen und lag ihr wie ein Stein im Magen. Der Gedanke an Essen war alles andere als verlockend.
    »Mir zuliebe«, sagte er, als er ihr Gesicht sah. Er stand auf und ging auf sie zu, mit dem schleppenden Gang, der ihr so vertraut war wie der eigene Körper. Mit einer raschen Bewegung des Daumens strich er ihr das Haar aus der Stirn, dann verschwand er in der Küche und rief nach Saisee.
    Sie hatte sich in die Ausdruckskraft seines Oberkörpers verliebt, in das, was von seiner soldatischen Wendigkeit übrig geblieben war: die Ungezwungenheit, mit der er Frankie den Arm um die Schultern legte und ihn damit zum Kumpel machte, die Leichtigkeit, mit der er den Kopf drehte, wenn er etwas hinter sich hörte, die geschmeidige Kurve seines Ellenbogens. Sie bewunderte seine tanzenden Finger, wenn er Spielkarten mischte oder die Grannen von einer Ähre zupfte. Die Geschwindigkeit, mit der er in einer raschen, fließenden Bewegung seine Bauernflinte schulterte. Wie ein junger Springinsfeld, dachte sie und schmunzelte.
    Sie stützte sich an der Rücklehne ab und zog sich in eine sitzende Position. Ächzend schlüpfte sie in die Jackenärmel. Wie lange dauerte es, bis man ein liebenswürdiger Mensch wurde? Einer, der ohne jede Gereiztheit Hilfe annehmen und Dankbarkeit ausdrücken konnte? Sie dachte daran, wie Frankie sich durch seine Hausaufgaben quälte, mit dem verfrühten Einsetzen der Pubertät kämpfte und sich mit der Tatsache abzufinden versuchte, dass seine Mutter im Gefängnis saß und nie das geringste Interesse an ihm oder seiner Entwicklung zeigte.
    »Danke, Miss Alice, dass Sie es versucht haben. Phinneaus meint, ich bin ein unvollendetes Werk«, hatte er ihr erst neulich ernst und geduldig erklärt, obwohl sie ihn ruppig behandelt hatte, nachdem sie dieselbe Textaufgabe zum fünften Mal durchgegangen waren – Züge fahren aus entgegengesetzten Richtungen aufeinander zu, der eine hat Orangen geladen, der andere Ananas, eine saftige Katastrophe bahnt sich an. Vielleicht bin ich das auch, dachte sie. Ein unvollendetes Werk .
    Phinneaus kam mit einem Tablett zurück und stellte es auf den Couchtisch. Er goss Kaffee in ihren geblümten Becher, das sechsteilige Porzellanservice mit Blumenmuster hatte er auf dem Flohmarkt gefunden. Er hatte sämtliche Henkel mit einem Stückchen Fahrradschlauch umwickelt, um ihr das Greifen zu erleichtern. Der Anblick dieses Bechers munterte sie zuverlässig auf, denn die Kombination der Materialien war wirklich bizarr – der schöne Schein der Kultiviertheit, gepaart mit der Realität der Behinderung. Der Kaffee war so, wie sie ihn mochte: mit einem ordent lichen Löffel Zucker und so viel Milch, dass Phinneaus nicht selten den Kopf schüttelte und Wozu überhaupt? schnaubte, bevor er ihr einen Becher reichte. Mit den Jahren hatten sie ihre jeweiligen Angewohnheiten kennengelernt; wie Jäger, die ihr Interesse sorgsam tarnen, hatten sie sich allmählich angenähert. Sie wusste, dass er gerne mit dem rechten Bein näher am Kamin saß. Als eingefleischter Geizkragen überflog er immer zuerst die Schnäppchen-Beilage der Zeitung. Er ging respektvoll mit den Tieren um, die er geschossen hatte; seine Finger

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