Das Gewicht des Himmels
Diagnose kam sie zweimal die Woche und half bei der Hausarbeit. Meine Mutter war überfordert mit mir, ich musste oft zum Arzt, und sie hatte so viele gesellschaftliche Verpflichtungen. Warum fragst du?«
»Ich weiß nicht recht.« Er senkte den Kopf und sagte leise: »Du bist müde. Es war ein langer Nachmittag, und ich muss nach Frankie schauen. Der Junge wird allmählich ganz schön durchtrieben. Wer weiß, was er heute schon wieder angestellt hat.«
»Dieser Junge ist ein sanftmütiges, liebes Kind, wie du sehr wohl weißt.« Sie drückte ihm die Lippen auf die Hand und lachte über den halb erschreckten, halb entzückten Aus druck auf seinem Gesicht. »Phinneaus Lapine, ich glaube fast, du wirst rot.«
»Bei dir vergesse ich, dass außerhalb dieses Zimmers noch etwas existiert.«
»Was hast du vorhin zu mir gesagt? Dass du immer noch da bist? Ich gehe auch nicht weg.«
Aus seinem Blick sprachen leise Bedenken. »Hoffentlich ist das wahr.«
Es war merkwürdig einzuschlafen, ohne den Wunsch zu verspüren, jemand anders zu sein. Wie der Raureif, der das Immergrün überzog, lag ihre Haut auf einmal anders über den Knochen und passte ihr gut. Das war sein Geschenk. Ihr Kissen duftete zart nach Lavendel, und die Laken waren kühl. Statt erst die Haare hochzustecken, ließ sie sich gleich auf das Kissen zurückfallen, sodass sich ihre dichten Locken ungezwungen und frei ausbreiten konnten. Es war ein ungewohnt tröstliches Gefühl, einfach sie selbst zu sein.
Am Morgen erschien sie mit einem Bärenhunger in der lichtdurchfluteten Küche und überraschte Saisee mit der Bitte um grünen Tee und ein zweites Stück Gebäck.
»Kennen wir uns?«, fragte Saisee, über den Rand ihrer Brille äugend. Sie legte wie jeden Morgen eine Reihe Tabletten vor Alice auf den Küchentisch, stellte den Teekessel auf und brachte ihr einen Tontopf mit Honig. »Mr. Phinneaus lässt ausrichten, dass er später rüberkommt, wenn’s Ihnen recht ist.«
»Wann hat er denn angerufen? Ich habe das Telefon gar nicht gehört.«
»Hab ich gesagt, er hat angerufen? Hab ich nich’. Er ist heute früh gekommen, kurz nach mir, und ist gleich ins Esszimmer gegangen und hat in Ihren Papieren gekramt. Der ganze Wohnzimmertisch liegt voll. Ich weiß gar nich’, wo das Essen hinsoll.« Sie klopfte sich mit einem Holzlöffel gegen den Oberschenkel und zog die Augenbrauen hoch.
Alice ging ins Wohnzimmer. Saisee hatte recht. Der ganze Tisch war mit ordentlichen Papierstapeln bedeckt, auf denen beschriftete Karteikarten darüber informierten, worum es sich handelte: Rechnungen, Kontoauszüge, Mietverträge, Quittungen, Steele & Greene . Sie umkreiste den Tisch und staunte, was er in nur wenigen Stunden fertiggebracht hatte. Ein wahres Organisationstalent. In der Mitte des Tischs lag, wie eine Nabe zwischen den Speichen, sein gelber Briefblock. In Phinneaus’ runder, weicher Schrift standen ganz oben zwei Worte. »T. Garza?« und »ASK?« Alice lief ein kalter Schauder über den Rücken. Sie ging in die Küche zurück, um fertig zu frühstücken, aber sie hatte keinen Appetit mehr und konnte ihren Blick nicht von dem Tisch im Nebenzimmer losreißen. Die Melodie, die sie im Geist gesummt hatte, wurde leiser und verhallte.
»Saisee, haben Sie alles nach unten gebracht?«
»Ihre Kleider sind noch oben. Und die Parfumfläschchen. Für die ist hier kein Platz. Ich hab nur alle Papiere runtergebracht, die ich gefunden hab, wie Mr. Phinneaus gesagt hat. Suchen Sie was Bestimmtes?«
Erwartete sie ein Schreiben, das an sie adressiert war? Einen Entschuldigungsbrief, ein Eingeständnis, dass sie sich die Schuld teilen mussten? Das hätte Natalie nicht ähnlich gesehen, sie hatte bis zur letzten Sekunde in ihrer Distanziertheit verharrt. »Eher nicht«, erwiderte Alice.
Es klopfte an die Tür, und Phinneaus stürmte herein. Unter Saisees wachsamem Blick stampfte er ein paar Mal mit den Stiefeln auf die Fußmatte.
»Guten Morgen.« Er kam auf Alice zu und küsste sie leicht auf die Wange. Seine Lippen waren trocken wie Papier und brachten eine Ahnung von Kälte mit. »Hast du gut geschlafen?«
Das Tageslicht hob die offenkundige Veränderung ihrer Beziehung deutlich hervor. Saisee räusperte sich und ging die Treppe hinauf, aber vorher bedachte sie Alice noch mit einem wissenden Lächeln, das ihr die Röte ins Gesicht trieb. Wie man sein Verhalten auch deutete – der fehlende Abstand zwischen ihnen bewies, dass sich seit dem Vortag etwas verändert
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