Das Gewicht des Himmels
immer noch schweißnass, und der hartnäckige Geruch nach Flugbenzin schlug ihm auf den Magen. Wenigstens steckten alle drei Spucktüten direkt vor ihm; darüber sollte er wohl froh sein. Die Frau auf dem Fensterplatz drückte sich so eng wie möglich an die Außenwand, hatte die Beine hochgezogen, die Arme um sich geschlungen und ihren ganzen Körper wie einen Schwamm zusammengepresst. Er würde sich wohl erst bei der Landung wie durch Zauberkraft wieder ausdehnen.
»Hier.« Stephen hielt ihm ein Plastikschächtelchen hin und zog eine schwarze Schlafbrille aus dem Bordkoffer, die er sich hektisch über den Kopf zog.
»Was ist das?«
»Komisch, dass Sie das nicht erkennen.« Stephen drückte auf seine Klingel und wedelte mit dem leeren Glas. Die Flugbegleiterin verdrehte die Augen. Garantiert enthielt das Ausbildungshandbuch für das Reise- und Gastgewerbe irgendwo eine Beschreibung von Stephen, in der sein Typ – wie konnte man es am freundlichsten formulieren? – anspruchsvoll genannt wurde.
»Und seine Erdnüsse nehme ich«, sagte er zu der Flugbegleiterin, als sie ihm die vierte Bloody Mary brachte. »Könnte nämlich gut sein, dass er sich übergeben muss.«
Die Frau auf dem Fensterplatz zog sich die Decke über den Kopf. Finch vergrub den Kopf in den Händen.
»Machen Sie auf«, sagte Stephen, auf das Schächtelchen deutend. »Akupressurbänder. Sie haben mir geholfen, als wir zum Ferienhaus gefahren sind. Jetzt revanchiere ich mich. Und glauben Sie nur nicht, dass ich Ihnen ein gebrauchtes Paar unterjuble. Ich musste die Verpackung aufmachen, um sicherzugehen, dass eine Gebrauchsanweisung dabei ist, und dann hat der Verkäufer darauf bestanden, dass ich sie nehme. Ich hätte lieber graue gekauft. Eine schwarzes Akupressurband wirkt so militant.«
Finch war wider Willen gerührt. Warum hatte er nicht selbst daran gedacht? Er zog die Bänder bis knapp unter die Handgelenke. »Das war aufmerksam, Stephen. Danke Ihnen.«
»Ich weiß. Bitte denken Sie auch auf der zweistündigen Autofahrt daran, wo auch immer wir hinfahren.«
Finch wollte es ihm schon sagen, aber Stephen hob den Zeigefinger. »Ich komme selbst drauf. Nur eine Sekunde.« Er kniff die Augen zu und murmelte vor sich hin. »Danke Ihnen. Thanksgiving. Truthahn. Wild Turkey. Bourbon? Nein. Truthahn jagen. Jäger … « Er lächelte und zog sich die Schlafbrille über die Augen. »Orion.«
Finch schüttelte den Kopf. »Erstaunlich.«
Während Stephen döste, entwarf Finch einen Schlachtplan. Dank Simon Hapsend suchten sie jetzt statt in fünfzig Bundesstaaten nur noch in einem. Weil Simon sich wegen Stephens blauem Auge schuldig fühlte, hatte er ihnen die Information beschafft, die sie am dringendsten brauchten: Natalie Kessler lebte in Tennessee. Ob Alice sich auch dort aufhielt, war nicht bekannt. Doch Natalie hatte sich die größte Mühe gegeben, nicht auffindbar zu sein, und so erwartete Finch kein herzliches Willkommen.
Seiner Überzeugung nach würde bei Natalie ein Gespräch über Geld auf dem direktesten Wege zu der fehlenden Tafel führen. Bei Thomas’ Tochter war das anders. Sie war jetzt eine junge Frau, nur ein paar Jahre älter als Stephen, und niemand wusste, was die Schwestern ihr über ihren Vater erzählt hatten. Vielleicht hatten sie ihn als Ungeheuer hingestellt oder behauptet, sie sei ihm gleichgültig, oder sie hatten ihn ganz eliminiert. Wie auch immer, diese Unterhaltung erforderte Fingerspitzengefühl. Ihm war der Gedanke zuwider, dass sie sich in familiäre Angelegenheiten einmischen mussten, vor allem, da völlig unklar war, welche Verfehlungen sich die Beteiligten wirklich hatten zuschulden kommen lassen. Aber die Tochter war keine Verfehlung. Sie war eine lebendige, atmende Verbindung zu Thomas, und da Thomas nicht für sich selbst sprechen konnte, hatte Finch eigentlich gar keine Wahl. Oder doch?
Er griff in seine Bordtasche, die er unter dem Sitz verstaut hatte, und zog eine Karte von Tennessee heraus. Darauf hatte er die Route mit Bleistift markiert, weil er echtes Papier der körperlosen Stimme vorzog, die bis zum Erbrechen die Worte Bitte kehren Sie wenn möglich um wiederholte. Orion war ein winziges Pünktchen; er musste die Lesebrille aufsetzen, um den Ort von der Bleistiftmarkierung zu unterscheiden. Warum sie sich ausgerechnet dort niedergelassen hatten – ja, wie sie den Ort überhaupt gefunden hatten ‒, war ihm ein Rätsel.
Der Pilot erklärte, man sei im Anflug auf Memphis, und Stephen
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