Das Gewicht des Himmels
ein falscher Auftakt, dachte Alice. So eine komplizierte Geschichte. Sie würde so viel erklären müssen. Ein anderer Beginn fiel ihr nicht ein.
»Ich bin deine Mutter.«
14
Dezember 2007
F inch war grün im Gesicht. Eigentlich glaubte er selbst nicht an seine Argumente, warum er nicht fliegen könne, aber er hatte sie so oft wiederholt, dass sie Wirkung auf seine Psyche ausübten. Zu seiner Beschämung hatte ihn vor dem Terminal eine Panikattacke überfallen, und er hatte verzweifelt versucht, sich in ein bereits anfahrendes Taxi zu quetschen. Dann wurden Stephen und er aus der Warteschlange geholt und gesondert kontrolliert, was zweifellos Stephens blauem Auge zu verdanken war, das mittlerweile in einem hässlichen Aubergineton schillerte. Und dass Stephen sich hartnäckig seine Bordkarte vor den Mund hielt, während er Instruktionen flüsterte, die für jeden im Umkreis von drei Metern deutlich hörbar waren, machte sie bei den Leuten von der Flughafensicherheit auch nicht gerade beliebt.
»Bemühen Sie sich, nicht verdächtig auszusehen«, mahnte Stephen.
»Ich sehe nicht verdächtig aus.«
»Sie hecheln geradezu. Das sieht aus, als hätten Sie was auf dem Kerbholz.«
»Weil ich keine Luft kriege«, zischelte ihm Finch durch zusammengepresste Zähne zu.
»Gibt’s hier irgendwo Sauerstoff?«, fragte Stephen laut und winkte in Richtung Sicherheitsdienst, obwohl ihn Finch mehrfach in die Rippen boxte.
»Sie bringen uns noch ins Kittchen!« Die anderen Passagiere waren klug genug, von ihnen abzurücken, sodass sie in der Schlange ein leicht identifizierbares Ziel bildeten.
Stephen war beleidigt. »Ich will Ihnen nur helfen, Ihre Phobie, wie man das wohl nennen muss, zu überwinden.«
»Helfen Sie mir lieber nicht.«
Der zweistündige Flug nach Memphis startete mit einer Verspätung von einer Stunde und zweiundvierzig Minuten. Die Warterei machte Finch fertig, mit geschlossenen Augen und feuchten Händen saß er auf einer der Sitzschalen. Claire hätte ihm helfen können, aber er wollte sie nicht rufen. Er hatte sich seine eigenen Bußregeln auferlegt, die vor allem die Orte betrafen, an denen er mit ihr sprechen durfte. Flughäfen, Flugzeuge und die Schlangen vor dem chinesischen Take Away oder vor Apotheken waren untersagt. Er wollte die Gespräche mit ihr nicht als Arznei gegen Langeweile missbrauchen und auch nicht, um das Gefühl von Hilflosigkeit zu bekämpfen. Die Dialoge mit ihr sollten auf Orte beschränkt bleiben, die sie geliebt hatte: ihren alten Küchentisch mit dem wackeligen Bein, den Shakespeare Garden im Central Park, die Modelleisenbahn-Schau im Haupt Conservatory, ihr Schlafzimmer. Vor allem ihr Schlaf zimmer. Es wäre nicht fair gewesen, die Regeln zu brechen und sie ausgerechnet hierherzuzerren, nur weil er einen kleinen Zusammenbruch hatte. Schließlich war sie damals seinetwegen allein auf dem Flughafen gewesen.
»Es war aber nicht dieser, oder?«
Stephens Stimme wirkte auf ihn wie ein sirrender Zahnarztbohrer, wie quietschende Folie – ein Geräusch, bei dem einem ein Schauder über den Rücken läuft.
»Wie, nicht dieser?« Finch machte ein Auge auf und sah auf dem Sitz gegenüber eine Inderin im roten Sari, die ihrem Mann aufgeregt auf die Schulter klopfte, während sie ihn mit einem Blick bedachte, bei dem selbst der heilige Franziskus auf dem kürzesten Weg in die Hölle geflohen wäre.
»Dieser Flughafen. Ich dachte, ich hätte Sie gefragt, und Sie haben verneint. Haben Sie doch, oder?«
»Bitte seien Sie still.«
Als das Boarding begann, musste Stephen ihn fast ins Flugzeug tragen. Um die Sache noch schlimmer zu machen, bestand Stephen auf dem Gangplatz, mit der Begründung, das gehöre zu seinem Flugritual. Als sie abgehoben hatten, kippte Stephen mehrere Bloody Marys und steckte alle drei Spucktüten in die Tasche am mittleren Sitz.
»Sie sollten einem gar keine hinlegen. Die Macht der Suggestion – du siehst die Tüte, dir wird schlecht. Wenn du auch nur nachschaust, ob eine Tüte da ist, gehst du schon vom Schlimmsten aus.« Er rückte an Finch heran und senkte die Stimme. »Es ist ganz wichtig, früh zu boarden, damit man sie wegstecken kann, bevor der Sitznachbar kommt. Irgendwie macht das die Leute nervös. Keine Ahnung, warum. Schließlich nehme ich sie ihnen ja nicht weg.« Als Antwort auf Finchs hochgezogene Augenbrauen fügte Stephen hinzu: » Repositionieren ist nicht wegnehmen. Genau genommen.«
Finchs Herz klopfte zum Zerspringen. Seine Hände waren
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