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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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Und dann müsste sie zusehen, wie sie in ihrer Umklammerung starb. Sie zog mit der rechten Hand die Finger der linken auseinander und legte den Vogel auf die Frisierkommode. Anschließend fiel sie aufs Bett. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, und machte sich auch nicht die Mühe, den Kopf nach den blinkenden Zahlen auf dem Wecker zu drehen. Sie konnte sich nicht erinnern, je so erschöpft gewesen zu sein – womöglich zu erschöpft, um weiterzuleben. Aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Sie fand ihn in keinem der Bilder, das sie heraufbeschwor – nicht im tröstlich weichen Klang von Phinneaus’ Stimme, nicht in Frankies nach Klee duftenden Haaren, nicht in dem warmen Tee, den Saisee ihr eingoss und der wie dunkel glühende Kohle durch ihre Kehle rann. Er war nicht unter der Daunendecke, nicht in den gestärkten Laken, nicht im federleichten Kopfkissen, das unter dem Gewicht ihres Kopfes einsank. Überall war nur Schuld und eine Stimme, die unablässig wiederholte: Agnete .
    Ihr Körper zwang sie zum Liegen. Sie hatte ihm zu viel abverlangt, und jetzt ließ er es sie unmissverständlich spüren. Mit aller Kraft wehrte sie sich gegen die herandrängenden Gedanken. Sie sah zu, wie die Sonne die Wände nach und nach bemalte, und konzentrierte sich auf das langsame Vordringen des Lichts. Ihre bleischweren Glieder nagelten sie auf der Matratze fest, sie hatte nicht einmal die Energie, sich umzudrehen. Und als sie begriff, dass Davonlaufen nicht mehr infrage kam, lief sie mit ausgebreiteten Armen auf das Unabwendbare zu. Sie jagte auf Agnete zu und schloss sie in ihre Arme, wie ein Wirbelwind aus aufgestauter Liebe und Reue. Mit dem Kind auf dem Schoß setzte sie sich hin, holte ihr Vogel-Tagebuch aus der Tasche und fing auf den ersten Seiten an. Sie zeigte ihrer Tochter jede einzelne Zeichnung, erklärte jeden Vogel, die drollige Kopfhaltung, die aufgeplusterten Federn, die Fundstücke, die er in sein Nest eingewebt hatte. Sie verweilte bei jeder Seite, ließ kein Detail aus, sah zu, wie ihre Tochter mit dem Finger die Umrisse der Zeichnungen nachfuhr, wie sie nickte, wenn sie bereit zum Umblättern war.
    Als das Zimmer so hell geworden war, dass das Licht sie blendete, inspizierte sie ihren Körper. Erst beugte sie den einen Fuß, dann den anderen, dann zog sie beide nacheinan der langsam an den Körper heran, bis die Knie gebeugt waren, und streckte sie vorsichtig wieder aus. Sie malte Kreise auf ihre Handgelenke, bog die Finger wie beim Klavierspiel und drückte unsichtbare Tasten hinunter, um die Biegsamkeit der Gelenke zu testen. Als sie sich probeweise auf die Seite rollte, erwartete sie ein scharfes Warnsignal ihres Körpers, aber der Schmerz war erträglich. Sie griff zum Telefonhörer und bestellte Frühstück: Toast, grünen Tee und ein einzelnes Rührei. Dann setzte sie sich auf und zog den Bademantel vom Fußende des Bettes zu sich heran; dort hatte Thomas gesessen, und sie presste ihn ans Gesicht, um vielleicht noch eine Spur von ihm wahrzunehmen. Aber der Stoff roch nur nach Zeder und dem Badezusatz vom Vortag.
    Das Frühstück schmeckte nach nichts; die Kleider, die sie sich überstreifte, waren gewichtslos. Als sie ins Freie trat, schlug ihr eiskalte Luft entgegen. Das Treppengeländer war von einem Mosaik aus Raureif überzogen, als hätte jemand beschlossen, über Nacht vom Herbst direkt auf Winter umzuschalten. Der Portier rief ihr ein Taxi, und sie gab dem Fahrer die Adresse.
    »Schöner Tag heute«, sagte er.
    »Ja.« Die Läden und niedrigen Flachdachhäuser zogen wie ein einziger lehmfarbener Nebelschleier an ihr vorbei. Sie drehte den Kopf zum Fenster, um den Taxifahrer von weiteren Gesprächsversuchen abzuhalten. Das Taxi passierte kurze Häuserzeilen mit parkenden Autos, und der Fahrer bog zügig erst in die eine, dann in die andere Richtung ab, bis sie sich in dem Labyrinth aus braunen Wänden und hohem Gras nicht mehr zurechtfand. Schließlich fuhr er ein paar Meter auf eine kiesbedeckte Auffahrt und hielt.
    »Hier sind wir. Calle Santa Isabel 11.«
    Die Fahrt war kürzer gewesen als erwartet. Sie standen vor einem kleinen, adretten Lehmziegelhaus mit einem niedrigen Mäuerchen, vor dem Büschel von hohem, kupferfarbenem Bartgras und Ravennagras wuchsen. Papiertüten standen auf dem Mäuerchen, und an der Tür hing ein Kranz aus Zedernzweigen.
    »Wissen Sie, wozu die Tütchen gut sind?«
    Der Taxifahrer drehte sich um und starrte sie an, als wäre ihm noch nie eine so

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