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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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dämliche Touristin untergekommen. »Farolitos. In jeder Tüte ist Sand und eine Kerze. Als mein Urgroßvater noch gelebt hat, hat man an den Straßenkreuzungen Feuer entzündet, damit die Leute den Weg in den Weihnachtsgottesdienst finden konnten. Vielleicht sind dabei zu viele Häuser in Brand geraten? Jetzt nehmen wir Papiertüten.«
    »Können Sie bitte auf mich warten?« Sie gab ihm zwanzig Dollar und stieg aus. »Es wird nicht lange dauern.«
    Alice blieb neben dem Taxi stehen, eine Hand auf die Kühlerhaube gestützt. Ihr kam der Gedanke, dass sie in Sicherheit war, solange sie sich nicht von der Stelle rührte. Die kleine Rede, die sie auf der Fahrt eingeübt hatte – Ich suche nach der Frau, die hier gewohnt hat. Ich bin eine Freundin ihrer Tante. Es gab einen Todesfall in der Familie, und wir versuchen, sie ausfindig zu machen –, klang plötzlich unecht. Sie war fremd, unbeholfen, ihr fehlten die Worte, sich verständlich zu machen.
    Der Fahrer schlug auf die Hupe und rollte das Fenster auf der Beifahrerseite ein Stück herunter: »He, Lady, alles in Ordnung?«
    Alice nickte und richtete den Blick starr auf den Kranz an der Haustür. Schwierig war nur der erste Schritt, danach würde sie, wenn es sein musste, hundert Fremde in hundert verschiedenen Häusern um Auskunft bitten können. Ihre Füße trugen sie über die Steinplatten der Auffahrt und durch die breite Maueröffnung in einen Vorgarten, der mit Stechpalmen, Sumach, Faulbaum und Weißem Salbei bepflanzt war. Sie blieb stehen.
    Überall im Garten standen unterschiedlich große Skulpturen, moderne Objekte aus Edelstahl, die etwas Bewegtes, Fließendes an sich hatten. Ob sie abstrahierte Figuren oder reine Formen darstellten, konnte Alice nicht sagen. Sie reflektierten das Sonnenlicht. Sachte strich Alice mit den Fingern über die Wölbung einer Skulptur, die dicht am Weg stand. Das glänzende, schwere Metall fühlte sich kühl und glatt an, nicht ein einziger Fingerabdruck verunstaltete die polierte Oberfläche.
    Die Haustür war in einem satten Orangerot gestrichen, das sie an die Beeren des Bittersüßen Nachschattens erinnerte. Wie von allein fuhr ihre Hand in die Höhe und klopfte leise an. Das Echo hallte in ihrem Herzen nach. Sie horchte auf Schritte und hoffte fast auf das Poltern schwerer Männerschuhe, denn ein Mann wäre vielleicht weniger misstrauisch. Aber es blieb still. Nichts zu hören, außer dem laufenden Taximotor. Sie klopfte noch einmal und wartete, aber nichts regte sich.
    Als sie gerade wieder gehen wollte, nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr, und als sie sich um drehte, sah sie eine Frau um die Hausecke kommen, die eine Khakihose, ein Jeanshemd und hellrote Gartenclogs trug. Sie hatte eine Zederngirlande geschultert. Alice konnte das würzige Holzaroma sogar aus ein paar Metern Entfernung riechen.
    »Ich habe gehört, dass jemand an der Tür ist, aber ich war im Garten und wollte nicht durchs Haus trampeln. Es ist so matschig da hinten. Kann ich Ihnen helfen?« Ihr Lächeln verwandelte sich in Besorgnis, als Alice das Gleichgewicht verlor und vom Weg abzukommen drohte.
    Vor ihr stand Thomas. Das waren seine gebogenen Augenbrauen, die lange Nase, die hohe Stirn. Als die Frau auf sie zulief, sah Alice, dass sie sich auch wie Thomas bewegte: rasch, entschlossen, zielstrebig. Gott sei Dank – seine schönen, geraden Finger packten sie am Arm. Aber dann sah sie sich selbst in den hellen Augen und der sommersprossigen Haut, in diesem durchdringenden Blick und den wilden Locken, die sich bis zu den Schultern ringelten, auch wenn das tiefe Schwarz von ihm stammte.
    »Sie setzen sich besser hin.«
    Aber Alice wollte sich nicht setzen. Sie wollte keinen Schritt weiter, wollte nicht, dass die Hand, die sie am Arm hielt, einen Zentimeter weiter hinauf- oder hinunterrutschte. Oder sie gar losließ.
    »Agnete Sophia Kessler.« Wie eine rituelle Handlung sprach sie den Namen aus, nicht als Frage, sondern als Taufe.
    »Ja. Kennen wir uns?« Da – der argwöhnische Tonfall ihres Vaters.
    Ja, wollte Alice antworten. Ich kenne dich so gut wie mein Herz. Ich weiß, wie du lachen wirst, wie du zum Abschied winkst, wie du am Daumennagel kaust, wenn du unruhig bist. Ich kenne dich seit der Sekunde, in der du auf die Welt gekommen bist, und wenn ich sie jetzt verlassen müsste, würde ich dich dennoch kennen, auch wenn ich zu Staub und Asche zerfallen würde.
    »Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen …«
    Agnete wartete geduldig. So

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