Das Gewicht des Himmels
in seine gemütliche Wohnung und zu der reizenden, immer rundlicher werdenden Lydia zurückkehren, und nach den Weihnachtsferien hatte er wieder seine Seminare. Auf ihn wartete eine Familie, im wahren Sinn des Wortes. Stephen dachte an den staubigen Plastikbaum seiner Mutter mit den in merkwürdigen Winkeln abgeknickten Zweigen. An manchen Stellen, wo die Nadeln wie Zähne ausgefallen waren, schimmerte schon das Metall durch, weil er jahrelang in dieselbe zu kleine Schachtel gequetscht worden war.
In knapp einer Stunde hatten sie die restlichen vier Hotels abgeklappert. In keinem gab es eine Alice Kessler, und niemand wollte verraten, ob sie ein Zimmer bewohnt und bereits wieder ausgecheckt hatte. »Es verstößt gegen unsere Bestimmungen, solche Informationen herauszugeben«, lau tete der Refrain. Stephen musste zugeben, dass sie in einer Sackgasse steckten. Sie konnten allenfalls noch nach Orion zurückfahren und sich auf Gedeih und Verderb Phinneaus ausliefern. Fast glaubte er zu spüren, wie die Wände seines kleinen Büros bei Murchison & Dunne um ihn zusammenrückten, und er hörte das Quietschen des Lifts, wenn er an seinem Stockwerk vorbeifuhr und der Krimskrams auf seinem Schreibtisch schepperte. Würde ihn Cranston noch über Weihnachten behalten oder ihn gleich entlassen und von seinen mageren Einkünften auch noch die Ausgaben dieser sinnlosen Suchaktion abziehen? Plötzlich völlig erschöpft, lehnte sich Stephen gegen einen Laternenpfahl, die Hand an die Stirn gelegt.
»Stephen.«
»Alles okay. Geben Sie mir nur eine Minute, bitte.«
»Stephen!«
»Zum Teufel, die Lage ist desolat, Finch, das müssen Sie doch zugeben.« Er blickte sich um. Finch stand wie angewurzelt vor dem Schaufenster einer Galerie.
»Sehen Sie sich das an«, sagte Finch und eilte in den Laden.
Stephen trat dicht ans Schaufenster und legte die Hand über die Augen, um in der grellen Sonne besser zu sehen. Finch redete wild gestikulierend mit einer jungen Frau im Jeansrock, deren Ohrgehänge bis zu ihren Schultern baumelten. Die Skulptur bestand aus Edelstahl und hatte eine sinnliche Form, wie eine Kreuzung zwischen Wolke und Klecks. Ihre Ränder waren abgerundet und spiegelglatt, und auf dem blanken Metall brach sich das Licht, das in Spektralfarben an der Decke aufleuchtete. Auf dem Schild am Sockel stand »Vertikale Pfütze #3 – A. Kessler.«
A. Kessler. Alice. Dass sie Künstlerin sein könnte, war Stephen nie in den Sinn gekommen. Er hatte sich kaum Gedanken darüber gemacht, wovon sie nach dem Abbruch ihres Studiums gelebt hatte. Ornithologie und Bildhauerei waren allerdings zwei sehr verschiedene Paar Stiefel. Aber wenn sie Bildhauerin war, hatte sie mit Santa Fe keine schlechte Wahl getroffen. Und wenn sie hier lebte, konnte man sie auch finden. Stephen legte Halt suchend die Hand gegen die Glasscheibe. Sie hatten es tatsächlich geschafft.
Beim Betreten der Galerie stieß er in der Tür gegen Finch, der sie gerade verlassen wollte.
»Wir haben Alice gefunden!« Stephen hatte plötzlich einen Bärenhunger und war der glücklichste Mensch auf Erden. »Haben Sie eine Telefonnummer? Wo wohnt sie?«
Finchs Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. »Alice haben wir nicht gefunden.«
»Was soll das heißen? ›A. Kessler‹. Das steht doch unter der Skulptur im Schaufenster.«
»Agnete. A. Kessler ist Agnete. Stephen, wir haben vielleicht Thomas’ Tochter gefunden. Nicht Alice.«
»Aber Alice war hier, in Santa Fe. Ich habe den Eintrag auf dem Kalender gesehen. Vielleicht wollte sie ihre Tochter besuchen. Das ist perfekt.«
»So würde ich es kaum ausdrücken, aber wir werden es wohl bald herausfinden. Ich habe meine Karte bei der Galeristin hinterlegt. Sie will Agnete anrufen und versuchen, ein Treffen zu arrangieren.«
»Aber was haben Sie ihr gesagt?«
»Ich habe gelogen.«
Noch nie im Leben war ihm das Lügen so leicht gefallen. Er hatte nicht eine Sekunde lang nachgedacht – A. Kessler konnte nur Alice sein – und ohne Umschweife nach der Skulptur im Fenster gefragt.
»Eine hiesige Künstlerin. Sie produziert wunderschöne, einzigartige Stücke. Die meisten sind recht groß; dieses hier hat sie speziell für mich gemacht, damit ich es in der Galerie ausstellen kann. Agnete Kessler.« Die Frau strich sich die Haare hinter die Ohren und lächelte herzlich, während sie ihn als potenziellen Käufer taxierte.
»Agnete, sagten Sie?
»Ja. Hätten Sie gerne mehr Informationen? Ich habe hier irgendwo ein
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