Das Gewicht des Himmels
Stellen abgeblättert war. Unter eins der Tischbeine war ein Katalog geklemmt, um den fehlenden Kugelfuß zu ersetzen. Stephens Dekorationsversuche beschränkten sich indes auf einen Wimpel mit der Aufschrift »Go Wolverines!« (den er einem Studienkollegen nach einem 4 2 : 3 Kantersieg der Mannschaft aus Michigan gegen die Minnesota Golden Gophers von der Wand stibitzt hatte) und einen ausgetrockneten Philodendron, der in einem Topf mit zementharter Erde steckte und seine papiernen Blätter gegen die Wand des Aktenschranks streckte.
Er ließ die Mappen auf den Tisch gleiten und sich selbst auf den Schreibtischstuhl fallen. Das Leder der Sitzfläche knackste und knirschte. Das Telefon auf dem Tisch blinkte wie verrückt, und das Mobiltelefon in seiner Tasche vibrierte. Mit dem Finger fuhr er dreimal über jeden Knopf des Bürotelefons – von links nach rechts, von rechts nach links und wieder von links nach rechts – machte aber keine Anstalten, die Nachrichten abzuhören. Er kaute stattdessen an einem Fingernagel und öffnete die unterste Schreibtischschublade. Daraus holte er eine Flasche Bourbon, goss sich eine großzügige Portion davon in den Kaffee und lockerte seine Krawatte. Dann verschränkte er die Arme auf der Tischplatte und legte den Kopf darauf. Er war ja so unglücklich.
Mit achtzehn hatte er sich eine andere Zukunft erträumt. Inzwischen war er einunddreißig, und spätestens dann hätte er gerne eine Ehefrau gehabt. Ein paar Kinder wären auch nicht schlecht gewesen, ganz zu schweigen von einigen herausragenden Karrierehöhepunkten. Er hielt sich die Nase zu, um ein aufkommendes Niesen zu ersticken. Die Lüftungsrohre bliesen einen dauernden Strom aus Staub und anderen schädlichen Partikeln in sein Büro. Seit zweieinhalb Jahren, seit er bei Murchison & Dunne beschäftigt war, litt er verstärkt unter schweren Allergien und gelegentlichen Migräneanfällen. In seiner Kehle juckte es, und er versuchte angestrengt, ein Keuchen zu unterdrücken.
Das Telefon klingelte. Nachdem er es kurz angestarrt hatte, nahm er seine letzte Energie zusammen und richtete sich auf.
»Stephen?«
»Am Apparat.«
»Hier ist Sylvia. Ich habe Ihnen eine Nachricht hinterlassen. Haben Sie sie nicht bekommen?«
Er setzte sich im Stuhl auf und straffte sich die Krawatte, so als könnte Cranstons Assistentin ihn durch einen halb durchlässigen Spiegel beobachten – in Wirklichkeit thronte sie fünfunddreißig Stockwerke über ihm. Sylvia Dillon machte sich anscheinend einen besonderen Spaß daraus, seine ohnehin schon erbärmliche Existenz noch mehr zu zerstören. Sie hatte einen kleinen Mund, ein krebsrotes Gesicht und flaumiges blondes Haar, das ihre rosafarbene Kopfhaut nur unzureichend bedeckte. Sie war schon ihr ganzes Berufsleben lang bei M & D und hatte als Assistentin des Geschäftsführers die Kontrolle darüber, wer zu Cranston vorgelassen wurde – und damit leider auch jede Menge Macht und Autorität, die sie ohne Skrupel einsetzte. Ihr üblicher Gesichtsausdruck insbesondere Stephen gegenüber war eine Mischung aus Misstrauen, Verachtung und Abscheu. Wenn sie nicht gerade mit Cranston redete, pflegte sie ihre Telefongespräche durch abruptes Auflegen zu beenden – nicht mal ein Auf Wiederhören, ein Danke oder auch nur ein Tschüs hatte sie für ihren Gesprächspartner übrig.
Die meisten gaben sich große Mühe, um sich bei ihr ein zuschmeicheln. Sie machten ihr unterwürfige Komplimente, schenkten ihr zu Weihnachten schön eingepackte Pralinen und ab und zu eine Topfpflanze. Früher hatte Stephen sich insgeheim über diese dummen und kriecherischen Typen lustig gemacht, aber inzwischen fragte er sich, ob er sich durch seinen Mangel an Unterwürfigkeit zu einem bevorzugten Objekt ihrer Schikane gemacht hatte – entweder das, oder sie wollte ihn nicht gerade subtil daran erinnern, dass sie – genau wie alle anderen – wusste, wieso er vor vier Jahren seinen letzten Job aufgegeben hatte.
»Sylvia, ich bin gerade erst reingekommen. In diesem Augenblick. Ich habe ein Gemälde begutachtet. Auf dem Weg ins Büro, meine ich.«
»Was für ein Gemälde denn?«
Zum Teufel. Warum hatte er nicht einen Zahnarzttermin vorgeschützt oder einen Stau nach einem harmlosen Unfall mit einem angefahrenen Fußgänger? Er hatte ein fach kein Talent zum Lügen. Ein guter Lügner musste ruhig bleiben, und das war etwas, was ihm nie gelang. Er stellte sich vor, wie Sylvia hinter ihrem Schreibtisch saß, die Schultern
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