Das Gewicht des Himmels
merkwürdig, wenn nach so langer Zeit ausgerechnet du ein neues Bild ›entdecken‹ würdest? Wenn du derjenige wärst, der die Echtheit bescheinigt, du, der du mein ganzes Œuvre dokumentiert hast?«
»Jedenfalls das Œuvre, von dem ich wusste.«
»Das ist es ja. Wenn wir es auf meine Art machen, kann niemand dir zweifelhafte Motive vorwerfen. Dann bin ich zur Abwechslung mal der Sündenbock, Denny. Wir wissen doch beide, dass ich viel zu viel Porzellan zerschlagen und viel zu selten die Verantwortung dafür übernommen habe.« Thomas legte ihm vorsichtig die Hand auf den Unterarm, ohne ihn mit ihrem ganzen Gewicht zu belasten. »Ich habe schon lange keine Gefälligkeiten mehr frei, das weiß ich. Aber ich würde diese Sache niemandem sonst anvertrauen wollen, ob du mir nun glaubst oder nicht. Ich brauche deine Hilfe.«
Claire hätte ihn gewarnt. Denny, du bist nicht gutgläubig. Aber du möchtest eben immer an das Gute im Menschen glauben. Auch wenn ein Mensch gar nichts Gutes mehr in sich hat.
Finch war erschöpft, und er spürte jedes einzelne seiner achtundsechzig Jahre. Noch nie hatte er erlebt, dass Thomas ihn so direkt um Hilfe bat. Er betrachtete ihn: die eingefallenen Wangen, das Rasseln seines Atems. Schließlich kapitulierte er. »Na schön.«
»Gibst du mir dein Wort darauf?«
Finch nickte. »Ich rufe Jameson an. Aber wenn das Bild nicht sauber ist, tust du ihm damit keinen Gefallen. Es gibt genug Leute, die ihm einen solchen Misserfolg gönnen würden.«
»Er hat wohl viele vor den Kopf gestoßen?«
»Im Umgang mit anderen Menschen ist er wie ein Elefant im Porzellanladen. Cranston hat es ihm außerdem nicht leicht gemacht – nicht, dass er dazu verpflichtet gewesen wäre. Immerhin hat er ihm einen Job gegeben.«
Thomas schnüffelte, als witterte er einen schädlichen Ge ruch. »Dieser Trottel Cranston kommt wahrscheinlich auf seine Kosten. Aber ich möchte dem jungen Mann keine unnötigen Schwierigkeiten machen. Sag ihm, er soll Cranston mitbringen. Und dir vielen Dank, Denny, dass du versprochen hast, mir zu helfen. Ich stehe in deiner Schuld, viel mehr, als ich es je wollte.«
Bei dem Wort »versprochen« zuckte Finch zusammen, und ein Hauch von Unbehagen kroch ihm unter die Haut.
Thomas schien das zu bemerken und lächelte. »Am allerbesten kann man den Lauf der Zeit verlangsamen, indem man ihr etwas Unerwartetes in den Weg knallt. Es wird bestimmt ein sehr interessantes Treffen. Für uns alle.« Und damit schlurfte Thomas Bayber lachend in sein Schlafzimmer.
3
S tephen Jameson schüttelte seinen Regenschirm aus, trat in den uralten Aufzug und drückte mit dem Ellenbogen den Knopf für die zweiundzwanzigste Etage. In den Händen hielt er eine Thermosflasche mit Kaffee, seine Aktentasche und einige Mappen. Die Türen schlossen sich, und er war eingeschlossen in einen winzigen Raum, dessen stickige, feuchte Luft eine ganze Reihe an Odeurs enthielt: Moder, den Körpergeruch anderer Leute und irgendetwas zwischen süß und alkoholisch, ähnlich einem Rumcocktail. Die Aufzugskabine setzte sich ruckartig in Bewegung. Auf dem Weg nach oben blickte er sehnsüchtig auf den Knopf mit der Nummer 57 – die Geschäftsführung von Murchison & Dunne, Kunst- und Antiquitätenhändler und Gutachter .
Sein eigenes Büro – das Einzige auf der zweiundzwanzigsten Etage – lag direkt neben dem Aufzugsschacht, was bedeutete, dass die Arbeitszeit von einem ständigen Quietschen und Ächzen untermalt wurde, jedes Mal, wenn der Aufzug die Menschen, die zu Höherem geboren waren, nach oben transportierte. Die Aktentasche an die Brust gedrückt, fummelte Stephen am Türknopf und drückte die verzogene Bürotür mit der Hüfte auf. Wiederum mit dem Ellenbogen schaltete er das Licht ein und blickte sich im Raum um. Vielleicht hatte sich über Nacht ja eine wundersame Verwandlung vollzogen? Nein, es war alles noch genauso, wie er es am Abend zuvor hinterlassen hatte. Ein Durcheinander von Telefonkabeln trat aus einem kleinen Loch in der vorderen Ecke des Zimmers und verschwand in einem etwas größeren Loch in der Gipskartonplatte weiter hinten. Popcornfarbener Dämmschaum quoll aus einer der Schallschutzplatten an der Zimmerdecke, und auf dem Boden neben der Heizung stand noch immer eine kleine, muffig riechende Pfütze.
An der Wand hingen gerahmte Diplome, die Stephen Abschlüsse in Kunstgeschichte und Chemie bescheinigten, und davor stand ein Schreibtisch aus Walnussholz, von dem die Lackschicht an vielen
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