Das Gewicht des Himmels
Moment.« Er blätterte die leeren Seiten seines Terminkalenders durch. »Ja, das würde mir besser passen, Sylvia. Dann halten wir morgen fest. Wiederhören.« Er legte auf, wartete eine Sekunde und vergrub das Gerät dann in der obersten Schublade. Auf seinem Notizblock vermerkte er: »Topfpflanze kaufen«.
Seit vier Jahren bezahlte Stephen für einen Fehler, den er innerhalb nur einer einzigen Minute begangen hatte. Er hatte seine vielversprechende Karriere im Alleingang zerstört. Na ja, vielleicht nicht ganz im Alleingang. Er hatte nicht gewusst, dass Chloe verheiratet war; das heißt, er hatte sich nicht lange mit dieser Möglichkeit aufgehalten. Auf jeden Fall hatte er nicht gewusst, mit wem sie verheiratet war. Sie war nicht wie eine verheiratete Frau aufgetreten. Andererseits hatte er wohl keine klare Vorstellung davon, wie eine verheiratete Frau auftrat, mal abgesehen von der offensichtlichen Annahme, sie wäre treu. »Ein tragisches Versehen«, hatte er ihr übers Handy geklagt, als er mit seinen persönlichen Gegenständen in einer Pappschachtel vor seinem ehemaligen Bürogebäude stand und auf ein Taxi wartete.
Er war im Büro ihres Ehemanns gewesen – zufällig der neue Direktor der Ankaufsabteilung bei Foyle’s New York und damit auch sein Chef – und hatte ein Portfolio mit Fotos der kommenden Auktionsobjekte durchgeblättert. Als er von der Abbildung zweier blau grundierter Sèvres-Vasen (circa 1770) aufsah, blickte er in Chloes Gesicht, das ihn aus einem Bilderrahmen auf dem Sideboard streng anschaute.
Das ist Chloe, sagte er.
Ach, Sie kennen sie? , fragte der Mann.
Ja, das ist nämlich meine Freundin , hatte er ganz automatisch geantwortet und einen zufriedenen Seufzer hinterhergeschickt. Obwohl ihn der Mann entsetzt anstarrte, ignorierte er das Warnsignal ganz hinten in seinem Hirn und redete sich noch tiefer in die Bredouille. Er hatte geglaubt, nicht das Bild, sondern der Rahmen sei der wahre Schatz: neoromantisch, ungefähr 1850, Blattgold über grauem Grund, verziert mit Blumen und Blättern, mit einer starken Rundung und gewölbten Ecken, in makellosem Zustand bis auf einen feinen Sprung in der Rundung. Ein Stück, das er vielleicht begehrt hätte, wenn er nicht schon das besessen hätte, was innerhalb des Rahmens zu sehen war. Und so machte er die Bemerkung und besiegelte damit sein Schicksal.
Als er das Bild von Chloe sah, verstand er plötzlich, warum der Erwerb von Schönem untrennbar mit Superlativen und schicksalhaftem Stolz verbunden war. Er konnte die weiche Rundung ihres Kinns spüren, mit einem Finger über die Sommersprossen auf ihrer Nase fahren. Er konnte ihren exotischen Duft riechen – Frangipani –, der ihn immer ein bisschen benommen und wie seekrank machte. In Australien nennt man diese Blume »die Finger des toten Mannes«, hatte sie ihm erklärt und sich an ihn geschmiegt, damals im Hotelzimmer, bloß ein dünnes, gestärktes Laken über sich. Ihre langen dunklen Haare lagen auf seiner Brust. Wie hatte er eigentlich vor ihr den Begriff Glück definiert?
Er hatte gesehen, wie andere Männer ihr mit den Augen folgten, wenn sie im Restaurant zu ihrem Tisch gingen, hatte bemerkt, wie sich Männer auf der Straße nach ihr umdrehten – und ihn gleich darauf prüfend musterten. Sie fragten sich offensichtlich, wieso er so viel Glück gehabt hatte. Das fragte er sich selbst auch. Als er von ihr wissen wollte, was sie an ihm fand, antwortete sie: »Du bist einfach schlauer.« Daraufhin war er versucht zu fragen: »Als wer?«, verkniff es sich aber, weil er eigentlich gar nicht erfahren wollte, ob sie ihn mit jemand Bestimmtem verglich oder nur ganz allgemein sprach. Es genügte ihm, mit ihr zusammen zu sein. Durch sie wurde er attraktiver.
Doch wenn sie getrennt waren, schwebte er ständig in einer Mischung aus Ungläubigkeit und Misstrauen. Dazu kam eine unwirkliche, taumelnde Erstarrung angesichts seines unfassbaren Glücks. So sehr war er in seiner Gefühls welt gefangen, dass es ihm gar nicht weiter seltsam vorkam, dass sein Chef ein Bild von Chloe auf dem Sideboard stehen hatte.
»Wie zum Teufel konntest du nur?«, hatte sie ihn gefragt. Ihr Tonfall machte ihn nervös.
»Wie ich konnte? Darf ich dich vielleicht daran erinnern, dass du diejenige bist, die anscheinend verheiratet ist? Der Mann hatte mir eine Frage gestellt ‒ sollte ich ihn vielleicht anlügen? Außerdem übersiehst du den entscheidenden Punkt. Ich bin entlassen worden. Gefeuert. Die ganzen drei
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