Das Gewicht des Himmels
Jahre, die ich im besten Auktionshaus des Landes an meiner Karriere gearbeitet habe, sind einfach weg.«
»Nein, du übersiehst den entscheidenden Punkt. Natürlich hättest du ihn anlügen sollen. Das hätte doch jeder so gemacht. Wie konntest du ihm bloß auf die Nase binden, dass ich deine Geliebte bin?«
»Also, ich wusste ja nicht, mit wem ich sprach. Aber jetzt weiß er’s wenigstens. Ist das so schlimm? Außerdem bist du doch tatsächlich meine Geliebte.«
Die Stille, die darauf folgte, machte ihm in aller Deutlichkeit klar, wie entsetzlich die Situation war. »Ist dir denn überhaupt nicht klar, was du getan hast, Stephen? Wie kannst du nur so furchtbar dämlich sein?«
Wenigstens das konnte er sich erklären. Schon sein ganzes Leben lang hatte er ein erstaunliches Talent für Missverständnisse gezeigt, besonders, wenn es um Frauen ging: ihre Wünsche, ihre Bedürfnisse, ihre Art zu denken. Sogar seine eigene Mutter hatte ihn manchmal so komisch angeschaut – als wäre er in Wirklichkeit gar nicht ihr Kind, sondern von Außerirdischen bei ihr abgegeben worden. »Wie kommst du nur auf die Idee, das hätte ich gemeint?«, fragte sie ihn dann. Dann hatte er sich immer eine Schwester gewünscht, die ihm, dem Einzelkind, dabei helfen könnte, die mysteriöse Sprache der Frauen zu entschlüsseln.
In der folgenden Zeit kümmerte er sich nicht um die Bemerkungen, die um ihn herumschwirrten, in einer Lautstärke, die gerade noch über seiner Wahrnehmungsschwelle lag: Sie hat ihn benutzt. Sie wusste genau, mit so einem würde sie ihren Mann fertigmachen. Sie hat sich an ihm gerächt. Stephen konzentrierte sich lieber auf jene Erinnerungen, die man im Rückblick nicht als heuchlerische Akte betrachten konnte: Chloe, die ihm mit den Fingern durchs Haar fuhr, als sie um Mitternacht durch den Central Park spazierten; Chloe, die sich auf die Unterlippe biss, während sie ihm die Krawatte richtete (dieser Anblick hatte ihn jedes Mal umgehauen); Chloe, die ihm Halspastillen in die Taschen stopfte, bevor sie ins Kino gingen, wo sie sich in die letzte Reihe setzten und er ihr unbemerkt die Oberschenkel streicheln konnte.
Auf den Rausschmiss (wie er den Vorgang bezeichnete) und die unvermeidliche Trennung folgte eine neunmonatige Periode, in der er zunächst mit voller Kraft, dann nur noch halbherzig und schließlich gar nicht mehr nach einer neuen Stelle suchte. Als hohes Tier in der Kunstszene und Freund zahlreicher Lokalpolitiker konnte Chloes Ehemann nach Belieben alle möglichen Strippen ziehen. Bald merkte Stephen, dass er auf einer Art schwarzer Liste stand, die verhinderte, dass er jemals wieder einen Job in der Branche fand – oder überhaupt eine Zukunft hatte. Jede Hoffnung auf eine Stelle als Kurator in einem Museum oder als Einkäufer bei einem Großkonzern musste er aufgeben. Genauso unwahrscheinlich war eine Position als Leiter einer Konservationsabteilung oder beim American Institute for Conservation of Historic and Artistic Works. Und da er sich kaum vorstellen konnte, vor mehr als fünf Personen zu reden, waren seine Aussichten in der akademischen Welt ähnlich schlecht. Das Schlimmste aber war, dass er jetzt nicht mehr beim angesehensten Auktionshaus der Stadt arbeitete – das heißt, wenn man berücksichtigte, dass der Ruf von Christie’s und Sotheby’s nach einigen Skandalen sehr gelitten hatte.
Er war gezwungen, seine Wohnung aufzugeben, und schlief nacheinander bei einigen Kollegen auf der Couch, aber bald schon war deren Gastfreundschaft erschöpft, und die wahre Natur ihres Verhältnisses wurde offenbar: Es waren doch bloß oberflächliche Bekanntschaften gewesen, nicht stark genug, um die Irritationen auszuhalten, die entstanden, wenn eine der Parteien ständig die Alkoholvorräte im Kühlschrank plünderte, überall Chipskrümel hinterließ und andauernd über eine aussichtslose Zukunft jammerte oder über Selbstmord nachdachte.
Als sich auch nach längerer Zeit keine Chance auf eine neue Stelle abzeichnete, begann Stephen, in der Galerie seines Vaters herumzuhängen, wo er seine Zeit damit verbrachte, die Rechnungen auf dem Schreibtisch von einem Stapel zum anderen umzuschichten. Er hätte dort arbeiten können – Dylan hatte ihm einen Job angeboten –, aber Stephen unterstellte seinem Vater eher Mitleid als wirkliches Interesse an seiner Person. Die Galerie hatte nämlich schon einen freundlichen und warmherzigen Direktor, der mehr Enthusiasmus zu bieten hatte, als Stephen jemals
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