Das Gewicht des Himmels
aufbringen würde. Hätte er das Angebot angenommen, wäre er weder zum Besitzer der Galerie noch zum Mitbesitzer geworden, sondern lediglich zum Assistenten des Direktors. Dabei war es nicht unbedingt der fehlende Titel, der Stephen abschreckte – es war vielmehr die deutlich spürbare Enttäuschung seines Vaters.
»Junge, reiß dich zusammen und hör auf, dich ständig zu bemitleiden. Du bist nicht der erste Mann, dem so eine Dummheit passiert ist.«
»Seltsame Art, mich aufzumuntern.« Stephen blätterte in Prospekten, um seinem Vater nicht in die Augen sehen zu müssen.
»Die Leute werden das schon wieder vergessen, aber du würdest es ihnen leichter machen, wenn du dich anders verhalten würdest, und nicht so …«
»Wie denn?«
Der Vater schüttelte nur den Kopf. »Schon gut. Du bist jetzt eben das Gesprächsthema Nummer eins, aber bald finden sie ein anderes armes Schwein, über das sie sich das Maul zerreißen können. Und derjenige hat wahrscheinlich weniger Talent als du, Stephen. Zum Glück verschwindet Talent nicht einfach, wenn man mit heruntergelassener Hose erwischt wird. Aber musste es denn unbedingt mit der Ehefrau eines anderen passieren?«
»Dad!«
»Ich meine ja nur. Mir wäre es lieber gewesen, du hättest dir eine ausgesucht, die du deiner Mutter und mir hättest vorstellen können.« Stephen spürte das Gewicht der Hand seines Vaters, die über seiner Schulter schwebte. Er wünschte sich, die Hand würde sich dort niederlassen – aber er hoffte vergebens. Als er wieder aufsah, bemerkte er im Gesicht seines Vaters einen Schmerz, der in ihn eindrang wie ein langsam wirkendes Gift.
Der Vater trat einen Schritt zurück. »Findest du, ich bin zu hart zu dir?«
Der Graben zwischen ihnen schien riesig. »Ist es vielleicht meine Schuld, dass Chloe ihre Ehe geheim gehalten hat? Nein. Bin ich vielleicht schuld daran, dass ihre Ehe unglücklich war? Wohl kaum. Und doch bin ich derjenige, der bestraft wird.«
Der Vater betrachtete seine Fingerknöchel. »Ach ja? Und was ist mit ihrem Ehemann? Ist der etwa nicht gestraft?«
Die Art, wie sein Vater ihm diese Frage stellte, machte Stephen Angst. Er spürte, dass Dylan mehr Erfahrung mit solchen Situationen hatte, als es Stephen lieb war.
»Sie hätte ihn verlassen sollen«, sagte Stephen. Damit meinte er: Sie hätte mich nicht verlassen sollen .
»Wenn man verheiratet ist, lernt man bald, sich zu arrangieren«, erklärte der Vater. »Das ist der einzige Weg, wie man verheiratet bleibt.«
Stephen schaute ihn direkt an, und plötzlich sah er einen alten Mann. Die Jahre hatten das Gesicht des Vaters in eine tektonische Landschaft verwandelt: tiefe Täler, weiche Hautfalten, flache Löcher, alte Narben, braune Flecken, Krähenfüße, buschige, scheinbar elektrisch aufgeladene Augenbrauen, ein dünner, säuerlich wirkender Mund, der keine Begeisterung mehr ausdrückte, ja, noch nicht mal mehr klare Konturen aufwies.
»Ganz ehrlich, mir ist völlig egal, wie er sich fühlt.«
»Hoffentlich meinst du das nicht ernst.«
Stephen drehte sich weg. Er hielt es nicht aus, sich noch länger mit dieser Geschichte oder seiner Rolle darin zu beschäftigen. »Doch, durchaus.«
Stephen goss sich noch mehr Whiskey in den Rest seines Kaffees und griff nach einem Taschentuch, weil er niesen musste. Danach tupfte er die Papiere auf dem Schreibtisch ab. Er hatte eine Strafe von fast biblischen Ausmaßen auferlegt bekommen. Als er noch seinen glänzenden Posten bei Foley’s innegehabt hatte, war er oft auf Firmenkosten durch Europa gereist – was für ein Leben! Er hatte Auktionshäuser, Privatsammlungen und Museen besucht, Alte Meister und zeitgenössische Riesen bestaunt, die Restaura toren in Lascaux beraten, Aubusson-Wandteppiche befühlt, handgefertigte Möbelstücke untersucht und sogar einen Meißener Fingerhut mit dem Wappen eines irischen Aristo kraten taxiert. Jetzt, vier Jahre danach, war er bei Murchison & Dunne gestrandet, wo er auf der untersten Stufe der Karriereleiter herumkrebste. Dort verbrachte er seine Zeit ausschließlich mit Schätzungen, während die Schulden auf seinen Kreditkarten wuchsen und seine Miete ständig stieg. Seine Lage wurde immer prekärer.
Es war kein Zufall, dass man ihn dort auf der zweiundzwanzigsten Etage kaltgestellt hatte. Simon Hapsend, der Vorbesitzer seines Büros, war für den Webauftritt der Firma verantwortlich gewesen. Außerdem hatte er sich um den Bereich der gerichtsfesten Wertgutachten gekümmert, und das
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