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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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ausgeschaltet. Nach vier Monaten in Europa hatte er noch immer viele Wunden zu lecken. Einige Tage später schaltete er das Telefon wieder ein und überflog die in der Zwischen zeit eingetroffenen Nachrichten. Es war schon später Herbst, in der Natur war alles kahl und trist, als er zur Beerdigung seines Vaters nach Hause flog und sich plötzlich in New York wiederfand – noch unglücklicher als vor seiner Abreise. Die Manschettenknöpfe, die einmal seinem Vater gehört hatten, waren das offensichtlichste Zeichen dafür, dass er Dylan Jamesons Sohn war.
    Sein Vater hatte nicht nur über enormes Wissen verfügt, sondern auch die Seele eines Poeten und einen Sinn für jede Art von Schönheit besessen. Dylan verstand, was Künstler ausdrücken wollten, und war besessen davon, ihnen zum Erfolg zu verhelfen. Darum war er bei allen beliebt: bei noch unbekannten Künstlern, bei etablierten Künstlern, die gerade einen Karriereknick durchmachten und schlechte Presse bekamen, bei Auktionatoren, die genau wussten, dass er über Insiderinformationen verfügte, und bei Gutachtern, die Wert auf eine zweite Meinung legten.
    Stephen dagegen interessierte sich nur für die Methodik. Was in einem Künstler vorging, war ihm egal, wichtig waren ihm bloß die Techniken, die der Künstler anwendete, und der Gedanke, dass man sie erlernen und lehren konnte. Wie konnte man unterscheiden zwischen dem Lehrer und dem ambitionierten Schüler, wie zwischen dem Wahren und dem Falschen? Um die Echtheit eines Werkes zu beurteilen, musste man seine Provenienz bestimmen, und das war nicht immer leicht. Wenn man auf dem normalen Weg nicht weiterkam, gab es noch andere Mittel, und auf diesem Gebiet lag Stephens Talent. Er hatte nicht nur das große theoretische Wissen des Kunsthistorikers, sondern auch die Gier des Gutachters, das Unbeweisbare zu beweisen.
    Am wohlsten fühlte er sich, wenn er allein arbeiten konnte, etwa, wenn er Pigmente analysierte, Bilder mit UV-Licht untersuchte oder grafologische Tests durchführte. Die Stunden verflogen nur so, während er sich über eine Signatur beugte und sich in die Schleifen der Schrift vertiefte. Es gab Signaturen mit kühnen, kräftigen Schnörkeln und solche mit ganz dezenten Strichen, aber in jedem Fall waren sie der krönende Abschluss des Bildes. Konnte man daraus Stolz lesen? Oder Triumph? Oder vielleicht, wie Stephen oft vermutete, bloß Erleichterung, dass das Werk endlich fertig war?
    Es war nur ein Zufall gewesen, dass er bei einem Nachlassverkauf vor zweieinhalb Jahren neben Cranston gestanden hatte – ein Glücksfall, dass beide gerade auf dasselbe, keinem Künstler zugeschriebene Bild starrten. Als Stephen dann anfing zu reden, waren seine Worte nur für ihn selbst gedacht – er hatte die Angewohnheit, seine Vermutungen laut vor sich hin zu sagen. Das Werk verriet den Künstler, so wie jeder Pokerspieler unbewusste Zeichen aussendete, die seine Strategie offenlegten. Schließlich bekam Stephen ein Jobangebot von Cranston, und er wusste, dass es keine Schicksalsfügung war, sondern die Hand seines Vaters, die ihn sanft anstieß und dazu anhielt, sich zusammenzureißen und neu anzufangen.
    Das Telefon summte aus der Schublade heraus. Er zögerte kurz und malte sich aus, wie Sylvias aggressive Stimme seine armen Ohren malträtieren würde. Aber als er auf das Display blickte, sah er, dass eine auswärtige Nummer angezeigt wurde. Es war Professor Finch.
    Auf einen Abend mit Finch hatte Stephen nun wirklich keine Lust, auch wenn er ansonsten nicht gerade viele Sozialkontakte hatte. Finch bewegte sich eigentlich nur in akademischen Kreisen, aber das glich er durch sein enormes kunstgeschichtliches Wissen wieder aus. Ganz besonders gut kannte er sich mit einem speziellen Künstler aus: Thomas Bayber. Finch hatte nicht nur an dessen Werkverzeichnis mitgearbeitet, sondern auch zwei Bücher über ihn verfasst, die beide sehr gute Kritiken bekommen hatten. Stephen hatte ihn vor einigen Jahren auf einer Galerieparty seines Vaters kennengelernt. Bei Murchison & Dunne gab es niemanden außer Stephen, der sich mit Finch auf ein Glas Bushmills verabredet, sich seine Geschichten angehört und seinen Pfeifenrauch – und zwangsläufig auch die angetrocknete Spucke in seinen Mundwinkeln – ertragen hätte. Aber Stephen musste zugeben, dass er den Professor mochte.
    »Stephen Jameson.«
    »Stephen, hier ist Dennis Finch.«
    »Professor Finch, es ist gerade schlecht. Ich bin auf dem Weg zu einer Besprechung.

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