Das Gewicht des Himmels
Zu einem Termin. Also, zu einem Termin für eine Besprechung. Vielleicht können wir ein anderes Mal miteinander reden?«
»Aber natürlich. Ich wäre Ihnen allerdings sehr verbunden, wenn Sie sich so bald wie möglich wieder melden könnten. Ich wollte mit Ihnen über einen weiteren Bayber sprechen.«
Plötzlich schien sich die Luft im Raum zu verdichten, Stephen nahm weder den quietschenden Aufzug noch den zischenden Heizkörper wahr. Alles war still.
»Sagten Sie, ein weiterer Bayber?«
»Ja, richtig. Ich dachte, Sie hätten vielleicht Interesse daran, die Echtheit des Werks festzustellen.«
Thomas Bayber war ein zurückgezogener Mann, der vor zwanzig Jahren mit dem Malen aufgehört hatte. Er war einer der genialsten lebenden Künstler und hatte laut Werk verzeichnis einhundertachtundfünfzig Bilder hervorgebracht, die alle in Museen hingen, bis auf drei in einer Privatsammlung in Spanien, eins in Moskau und vier weitere in den USA, die sich in gemeinschaftlichem Privatbesitz befanden. Der Gedanke, dass er derjenige sein könnte, der ein weiteres Bild für echt erklärte, ließ Stephen innerlich erbeben. Ein solcher Coup würde seine vergangenen Fehler ungeschehen machen. Vor seinem geistigen Auge sah er Interviews und Beförderungen und Abendessen in teuren Restaurants. Sein Weg würde ihn ganz nach oben führen, wenn auch nur, um seine Kündigung abzugeben. Die endlosen Möglichkeiten, die sich vor ihm auftaten, verursach ten ihm Schweißausbrüche. Seine Nase lief. Und dann kamen ihm Zweifel. Gerade Finch würde doch beurteilen können, ob ein Bayber echt war oder nicht – er hatte schließlich sein ganzes Leben der Erforschung des Bay berschen Œuvres gewidmet. Warum rief er nicht gleich bei Christie’s oder Sotheby’s an? Das Misstrauen hatte von Stephen Besitz ergriffen. Irgendjemand wollte ihn in eine Falle tappen lassen! Eine weitere Demütigung würde sein angeschlagener Ruf nicht überleben.
»Warum ausgerechnet ich?«, fragte er direkt.
»Thomas hat speziell nach Ihnen verlangt. Da ich schon das Werkverzeichnis zusammengestellt habe und es um ein Bild geht, das ich nicht kenne, findet er, wir sollten jemanden hinzuziehen, der … sagen wir, nicht voreingenommen ist.«
»Er hat also Angst, Sie könnten das Bild nicht anerkennen, weil es nicht ins Werkverzeichnis aufgenommen wurde?«
Am anderen Ende herrschte eine Weile Stille. »Stephen, ich weiß nicht genau, was in ihm vorgeht, aber ich denke ganz ähnlich wie er. Es wäre am besten, wenn wir einen un abhängigen Gutachter hätten.« Jetzt klang der Professor angespannt. »Aber da ist noch eine Sache. Wenn Sie das Werk für echt erklären, soll es nach Thomas’ Willen sofort verkauft werden. Er möchte, dass die Firma Murchison & Dunne den Verkauf abwickelt. Vielleicht sollten Sie Cranston mitbringen.«
Stephen gefiel die Idee gar nicht, den Geschäftsführer von Murchison & Dunne mit einzubeziehen, bevor er selbst Licht in die Angelegenheit gebracht hatte. Andererseits: Wenn Cranston herausfand, dass Stephen das Bild ohne ihn untersuchte, würde er ihm vorwerfen, auf eigene Faust zu handeln und die Interessen der Firma zu vernachlässigen. Es war wohl besser, gleich mit Cranston zu reden. Wenn sie sich das Bild zusammen ansahen und es als Fälschung er kannten, konnte Stephen Schaden von Murchison & Dunne abwenden. Wenn es aber ein echter Bayber war, würde Cranston mitbekommen, dass Stephen von Thomas Bayber höchstpersönlich angefordert worden war.
»Wann denn?«
»Morgen Nachmittag, dachte ich. Das heißt, wenn Sie abkömmlich sind.«
Stephen ignorierte Finchs Spitze. »Ja, wir sind abkömmlich.« Sie vereinbarten einen Termin, und Stephen schrieb die Adresse auf einen Schmierzettel und legte auf. Seine Hände zitterten, als er Sylvias Nummer wählte. Während er darauf wartete, dass sie abhob, wischte er sich die Handflächen an der Hose ab.
»Sylvia.« In seiner Stimme schwang ungewohnte Autorität mit. »Ich werde mich heute Nachmittag mit Cranston treffen, aber nicht in Sachen Eaton-Nachlass. Es geht um etwas anderes. Streng vertraulich. Buchen Sie einen Konferenzraum.« Er legte auf, ohne sich zu verabschieden, und stellte sich Sylvias schockierten Gesichtsausdruck vor: ihren Mund, der sich wie bei einem gestrandeten Fisch öffnete und wieder schloss, in einem atemlosen, verblüfften O.
4
A m nächsten Nachmittag um genau ein Uhr fünfzehn traf Stephen seinen Vorgesetzten auf dem Flur an. Cranston, dessen massiver Bauch
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