Das Gewicht des Himmels
auf einen Sessel zuging und sich neben Finch niederließ. Wortlos setzte er sich zurecht und streckte eine Hand aus, auf die Finch sofort ein Glas stellte. Zum ersten Mal tat Stephen der Professor leid. Er spielte die Rolle des Lakaien nur zu gut, und Stephen begriff, dass er und Cranston gerade Zeugen eines Rituals wurden, das Finch und Bayber offenbar seit vielen Jahren praktizierten.
Die Luft im Raum war stickig. Stephen konnte das Kitzeln in der Kehle nicht länger unterdrücken und hustete so heftig, dass er rot anlief. Verzweifelt tastete er nach seinem Glas.
»Mr. Jameson, vielleicht sollten Sie lieber zu Wasser greifen«, riet Cranston streng, nachdem er ihm auf den Rücken geklopft hatte.
»Ja«, erwiderte Stephen und lockerte sich den Hemdkragen. »Das wäre wohl vernünftig. Entschuldigung.«
Finch und Bayber blickten einander an und begannen zu lachen. Stephen war peinlich berührt und spürte noch mehr Blut in seine Wangen schießen. Das ganze Selbstvertrauen, das er zuvor mühsam aufgebaut hatte, schwand dahin.
»Es tut mir leid, Mr. Jameson, aber das ist einfach ein Klassiker: Das Pech eines anderen ist immer der leichteste Weg, das Eis zu brechen. Trotzdem freut es mich sehr, Sie endlich kennenzulernen.«
Bayber verfügte über eine beeindruckend sonore Stimme. Obwohl Stephen sich vorgenommen hatte, gleichmütig zu bleiben, war er hingerissen von der Erscheinung des Künstlers. Er wusste, dass Bayber, der ihn jetzt eingehend musterte, Anfang siebzig war. Stephen hatte angenommen, das Alter hätte dem Mann zugesetzt, aber abgesehen von seiner leichenblassen Gesichtsfarbe und einer gewissen Zögerlichkeit in den Bewegungen sah er noch genauso aus wie auf den Bildern, die Stephen gesehen hatte: groß und schlank, die Haltung aufrecht, die Haare noch immer dicht, wenn auch schlohweiß. Sein Auftreten war gebieterisch und gleichzeitig charmant.
»Ich habe Ihre Mutter in der Kunstgalerie kennengelernt, Mr. Jameson, allerdings nicht Ihren Vater. Nach dem, was ich gehört habe, war er ein außergewöhnlicher, bewundernswerter Mann. Hätten wir mehr von seiner Sorte, wäre die Welt ein besserer Ort für Künstler – ja, überhaupt für die Menschen. Erlauben Sie mir, Ihnen mein Beileid auszusprechen.«
Genau in dem Moment, als Bayber den Vater erwähnte, hatte Stephen an ihn gedacht. Mit den Fingern fuhr er über die Manschettenknöpfe, die er in der Tasche hatte. Sein Vater hätte sich in dieser Runde sehr wohlgefühlt: mit seinem Freund Finch, dem aufgeblasenen Cranston und dem Künstler Bayber, den er immer gefördert hatte, trotz seiner bekannten moralischen Schwächen. Wenn er mir nur so viel Freiheit erlaubt hätte wie Bayber, dachte Stephen, schämte sich dann aber dafür. Bayber betrachtete ihn. Es war ein schwindelerregender Gedanke, dass dieser Mann in der Kunstgalerie seines Vaters verkehrt und Stephen nie davon erfahren hatte.
Bayber räusperte sich und riss Stephen aus seiner Träumerei. »Genug des Smalltalks, kommen wir jetzt zum Geschäftlichen, Gentlemen. Ich habe ein Gemälde, das ich verkaufen möchte. Ich nehme an, dass Sie dieses Gemälde gern für mich verkaufen wollen?«
»Wenn wir das Stück untersucht und die Echtheit bestätigt haben, wäre es uns eine Ehre«, sagte Cranston.
Bayber legte die Hände zusammen wie zum Gebet und ließ die Fingerspitzen auf seinen Lippen ruhen. Stephen bemerkte, dass er ein Lächeln zu unterdrücken versuchte – ohne Erfolg.
»Natürlich, Mr. Cranston. Davon gehe ich aus. Und hier haben wir zwei Herren unter uns, die in der Lage sein sollten, die Echtheit des Stücks festzustellen, nicht wahr? Mr. Jameson, darf ich Sie bitten?«
Bayber wies in die Ecke des Zimmers, wo ein Haufen Planen den Boden bedeckte. Stephen ging hinüber und hob behutsam eine Ecke der obersten Plane an, entdeckte darunter jedoch nur eine zweite. Er rollte insgesamt fünf Lagen zurück, bevor ein schwacher Schimmer einer goldenen Kante ihm den Atem nahm.
Im Zimmer war es still. Stephen konzentrierte sich, blendete die gesamte Umgebung aus. Nur das Bild vor ihm zählte jetzt. Er kämpfte gegen den Wunsch an, gleich die gesamte Plane von dem Gemälde zu entfernen, und betrachtete zunächst nur den Rahmen. Vorsichtig zog er das Tuch zurück, sodass die ganze linke Seite des Rahmens sichtbar wurde.
»Old MacDonald had a farm«, sagte er halb flüsternd. Er begann jede Untersuchung mit demselben rhythmischen Unsinn, um sich zu beruhigen und seine Konzentration zu
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