Das Gewicht des Himmels
vermisste Personen aufzuspüren.«
»Ja«, sagte Cranston. »Das klingt wirklich vernünftig.«
»Oh, also ich finde, dass Sie durchaus dafür qualifiziert sind«, erwiderte Thomas und legte die Fingerspitzen aneinander. »Denny, du und Mr. Jameson, ihr seid genau die richtigen Leute für den Job.«
In diesem Moment wurde allen auf beunruhigende Weise bewusst, dass Thomas sämtliche Weichen schon längst gestellt hatte. Er hatte Finch und Stephen gerade einen Auf trag erteilt, der sie nun auf Gedeih und Verderb aneinander kettete.
»Mr. Bayber, darf ich fragen, warum Sie das glauben?« Stephen schien völlig verblüfft.
Thomas entgegnete: »Wer wäre besser geeignet als jemand, der ein handfestes Interesse daran hat, die Schwestern zu finden? Finanziell und auch in anderer Hinsicht.«
»Nun, Professor, soll ich buchen, oder machen Sie das?«
»Buchen?« Finch war nicht ganz bei der Sache. Von seinem Regenschirm liefen ihm Tropfen in den Hemdkragen. Seine Wollsocken waren feucht und seine Füße kalt.
»Unsere Flüge. Von JFK aus sind wir im Nu in Rochester. Und von dort aus kommen wir wahrscheinlich mit dem Taxi hin.«
»Ich weiß nicht, ob das wirklich ein guter Plan ist. Cranston hätte nicht so schnell verschwinden sollen.«
»Sehen Sie ein Problem?«, fragte Stephen, nahm seine Aktentasche in die andere Hand und winkte einem Taxi, das erst abbremste und dann doch an ihnen vorbeiraste. Weil Finch zögerte, redete er selbst weiter: »Sie zweifeln daran, dass das Bild echt ist? Ich gebe zu, ich konnte es nur kurz untersuchen, aber ich bin mir relativ sicher …«
»Sie mögen sich nur relativ sicher sein – ich bin mir absolut sicher, dass es echt ist.«
Finch hatte sofort gewusst, dass das Bild von Thomas war. Dieses Porträt war zwar überhaupt nicht typisch für ihn, aber Finch erkannte Thomas’ Handschrift auf den ersten Blick. Die schwarzen, weißen und gelben Pigmente des Verdaccio verdichteten sich zu einer grünlich grauen Untermalung, die als Gegengewicht zu den warmen Grundtönen des Bildes fungierte. Finch kannte Thomas’ Technik so genau wie das Gekritzel seiner eigenen Tochter. Abgesehen davon reagierte er immer unmittelbar und direkt auf Thomas’ Werke: Sein Magen verkrampfte sich, und in den Fingerspitzen kribbelte es – die intuitive Antwort seines Körpers auf seine immer noch vorhandenen festen Vorstellungen, was Kunst eigentlich ausmachte.
Das war seine ureigene Gabe: Er beherrschte die geheime Sprache der Künstler. Diese Fähigkeit hatte er erst mit dem Älterwerden und durch harte Arbeit erworben. Er konnte jeden Pinselstrich deuten, jeden Farbton interpretieren, jedes Muster erkennen, das einem Künstler intuitiv aus der Hand geflossen war. Wenn Finch ein Bild von Thomas betrachtete, spürte er dessen Stolz und Frust, die Freude an der Perfektion, das obsessive Verlangen. Doch jetzt musste er es Stephen überlassen, dem Gemälde mit seinem Arsenal an Instrumenten und technischen Spielzeugen zu Leibe zu rücken und es offiziell zu einem Bayber zu erklären. Die Unzufriedenheit darüber saß tief in seinem Inneren. Er war auf seine Art Experte, Stephen auf eine andere Art. Aber nur einer von beiden würde mit seinem Gutachten das große Geld verdienen.
»Ja, es ist ein Bayber, Stephen. Ich bin mir sicher, dass eine genauere Untersuchung das bestätigen wird.« Finch war wütend auf Thomas. Die Feiertage standen vor der Tür, und der Jahrestag von Claires Tod war auch nur noch wenige Wochen entfernt. Er hatte keine Lust, sich auf eine Art Himmelfahrtskommando einzulassen. Am liebsten würde er in seiner Wohnung Winterschlaf halten und erst wieder aufwachen, wenn die dunklen Monate vorüber waren. Aber er hatte sein Wort gegeben. Und das war bindend, das wusste Thomas genau. Er saß in der Falle.
»Finden Sie, wir sollten mit der Suche woanders anfangen? Nicht am Sommerhaus? Würden Sie lieber mit dem Haus der Kesslers beginnen?«
Finch seufzte und stellte sich auf eine unangenehme Reaktion ein. »Ich fliege nicht.«
»Wie bitte?«
»Ich sagte, ich fliege nicht.«
Stephen ließ seinen Werkzeugkoffer fallen, sein Körper begann heftig zu beben. Schließlich beugte er sich weit nach vorn und ließ einen lauten Schluckauf hören.
»Ich finde das nicht komisch«, sagte Finch.
Stephen richtete sich wieder auf und tupfte sich die Augen mit dem Ärmel ab. »Ist es aber«, entgegnete er. »Ich habe nämlich keinen Führerschein.«
Finch trommelte mit den Fingern auf seine
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