Das Gewicht des Himmels
Jahren genau einkreisen. Trotz des Sujets deuteten die Farben, der Pinselduktus und die Kleinteiligkeit des Hintergrunds auf eine bestimmte Schaffensperiode in Thomas’ künstlerischer Laufbahn hin. Er würde es Stephen überlassen, darüber Genaueres herauszufinden. Was Finch aber überraschte, war der Schmerz in den Augen des Mannes auf dem Bild. Denselben Schmerz hatte er in den Augen des Künstlers bemerkt, als er sein eigenes Werk betrachtete. Er sah auch Arroganz, aber die war nicht annähernd so groß wie die Zerrissenheit des jungen Mannes, der sich jenseits der Grenzen der Liebe befand. Das machte Finch Angst. Denn in all den Jahren, die er Thomas inzwischen kannte, hatte er noch nie erlebt, dass er sich nach etwas sehnte. Finch hatte sich nie gefragt, ob es etwas gab, was in Thomas’ Leben fehlte, was er sich wünschte. Bis jetzt.
Ausgehend von dem Wenigen, was der Künstler ihm verriet, hatte Finch Thomas’ Lebenslauf skizzenartig zusammengestellt. Den Rest hatte er durch sorgfältige Recherche herausbekommen. Trotzdem war das Bild noch unvollendet. Finch wusste, dass Thomas’ Eltern distanziert und desinteressiert gewesen waren. Sie hatten bald genug gehabt von den Flausen ihres vermeintlich faulen Kindes. Der Sohn trug nichts zum Familienunternehmen bei, und darum hörten sie auf, ihn zu unterstützen, als er achtundzwanzig war, trotz der Tatsache, dass er allmählich erste Erfolge vorzuweisen hatte. Für sie war die Kunst nicht wichtiger als andere Hobbys: Blumenstecken, Wein, Tischtennis.
Auf sich allein gestellt, kam Thomas in der Welt nicht gut zurecht. Er war Reichtum und ein angenehmes Leben gewohnt, war immer umgeben gewesen von Menschen, die gegen Bezahlung alles für ihn taten: Sie hatten für ihn gekocht, ihn herumgefahren, ihm Bildung angedeihen lassen und seinen Charakter geformt. Obwohl seine Bilder viel Geld einbrachten, schien dieses Geld unweigerlich wieder von ihm fortzuströmen. Als Finch etwa fünfzehn Jahre nach dem ersten Treffen Thomas in seinem Atelier besuchen durfte, erschreckten ihn die Zustände dort: Es gab keinerlei Lebensmittel, die Schränke waren leer bis auf Spirituosen und Zigaretten. Thomas war so ausgemergelt, dass Finch sich fragte, wovon er eigentlich lebte. Stapel mit ungeöffneter Post lagen auf dem Boden herum: unbezahlte Rechnungen, persönliche Briefe, Werbesendungen, Mahnungen der Elektrizitäts- und Wasserwerke, private Aufträge für Bilder, hoffnungsvolle Einladungen von Kuratoren – alles durcheinander. Finch hatte sich mühsam durch diese Geröllhalde aus Briefen gewühlt, die Thomas selbst als Merkwürdigkeiten betrachtete, mit denen sich nur normale Menschen herumschlagen mussten. Er hatte beschlossen, sie einfach zu ignorieren. Darum wuchs der Berg an Umschlägen immer weiter an und bildete bald ein Minenfeld, das er jeden Tag überqueren musste.
»Du solltest wirklich mal einige dieser Briefe lesen«, hatte Finch gesagt. Er hielt ein paar Umschläge hoch, die schwarze Fußspuren aufwiesen.
»Wieso denn das?«
»Damit du nicht bald in einem Atelier sitzt, in dem es keine Heizung, kein fließendes Wasser und keinen Strom mehr gibt. Bevor du mir jetzt wieder irgend so eine schlaue Antwort gibst, überleg dir, dass es mit eiskalten Händen schwierig ist, einen Pinsel zu halten. Außerdem: was, wenn jemand dich erreichen will? Hast du überhaupt Telefon?«
Thomas lächelte nur und erwiderte: »Wer sollte mich denn erreichen wollen?«
Finch deutete auf den Poststapel. »Diese Leute vielleicht?«
Thomas zuckte mit den Schultern und sagte: »Du könntest mir das doch abnehmen, oder?«
»Thomas, ich bin nicht dein Sekretär.«
Thomas ließ den Pinsel sinken und schaute Finch an, so intensiv, wie er vermutlich seine Modelle studierte.
»Denny, ich wollte dich nicht beleidigen. Ich dachte, für dich wäre es interessant, Einblick in meinen Papierkram zu bekommen, weil du doch mit meinem Werkverzeichnis beschäftigt bist. Du musst wissen, dass ich meine private Korrespondenz niemandem außer dir anvertrauen würde.«
Schließlich hatte Finch eine Assistentin für Thomas aufgetrieben, eine liebenswürdige, geduldige Mutter von vier Kindern mit grau meliertem Haar und viel Erfahrung in Sachen Chaos. Zweimal in der Woche kam sie ins Atelier und versuchte, Ordnung in die Anarchie zu bringen. Das Sortieren machte ihr anscheinend großen Spaß, und bald schon hatte sie Thomas’ Unordnung aufgearbeitet. Mrs. Blankenship, so hieß die Dame, legte die
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