Das Gewicht des Himmels
persönlichen Briefe in ein Fach, sodass Finch sie lesen konnte, und klebte die Mahnungen an die Whiskeyflaschen.
»Nur da bemerkt er sie«, erklärte sie Finch, als dieser ihre unorthodoxen Methoden kritisierte. »Und jetzt bezahlt er sie immerhin.«
Das stimmte. Und Mrs. Blankenship kam auch im Apart ment voran, wo sie einige Male pro Woche vorbeischaute und die benutzten Gläser einsammelte.
»Warum kannst du ihn denn nicht einfach in Ruhe lassen?«, hatte Claire ihn gefragt.
»Weil er mein Freund ist. Er hat sonst niemanden.«
»Er benutzt dich doch nur. Und du lässt das zu. Ich verstehe dich nicht.«
Wie konnte er ihr etwas erklären, was er sich doch nicht einmal selbst erklären konnte? Er war inzwischen in einem Alter, in dem die Möglichkeiten nicht mehr grenzenlos waren: Mehr als das, was er jetzt hatte, würde er nicht mehr bekommen. Aber er konnte jetzt seine persönliche Zufriedenheit trennen von seinem beruflichen … ja, was eigentlich? Versagen? Dieser Begriff war zu stark. Von seiner Durchschnittlichkeit? Für ihn waren Privates und Beruf liches zwei verschiedene Bereiche, und das eine konnte das andere nicht schmälern. Aber Claire betrachtete jeden Unmut seinerseits als ihr eigenes Versagen, so als läge es in ihrer Hand, ihm zu wahrer Größe zu verhelfen. Zu Hause war er der wichtigste Mann der Welt. Draußen jedoch war er ein Mann von beschränktem Erfolg. Er war nicht für höhere Weihen bestimmt, und mit seinem Namen würde man später keine Superlative verbinden.
»Wenn Thomas und sein Ruf nicht wären, würden wir jetzt vielleicht Bohnen aus der Dose essen, meine Liebe, und nicht das hier …« Mit der Gabel wies er auf ihr Mahl: Rinderfilet in Madeira mit Pfifferlingen und Maronen, daneben stand ein Glas dunkelroten Spätburgunders.
»Ach, dann haben sich deine Bücher also von ganz alleine geschrieben? Und du hast gar nichts dazu getan?« Claire versteckte ihr Gesicht hinter der Serviette. Als sie sie wieder an ihren Platz legte, waren ihre Wangen feucht.
»Was ist denn los?« Im Geiste ging er eine Reihe von Katastrophenszenarien durch.
»Glaubst du, du hast dich mit zu wenig zufriedengegeben? Du hast eine Frau und ein Kind. Aber eigentlich hast du doch nach Höherem gestrebt?«
Er hatte sofort darauf reagiert. Entschieden hatte er den Kopf geschüttelt und versucht, sie zu unterbrechen. Ja, früher habe er sich vielleicht größeren Erfolg gewünscht, aber niemals auf Kosten der Familie. Hätte er sich entscheiden müssen zwischen beruflichem Erfolg und seiner Familie, wäre die Antwort sonnenklar gewesen. Sie legte ihm die Hand auf den Arm, und er ließ sie weiterreden.
»Wenn du von Thomas zurückkommst, bist du immer so aufgewühlt. Irgendwie nicht ganz bei dir. Du schaust dich in unseren Räumen um, als hätte sich während deiner Abwesenheit etwas verändert. Als wäre alles kleiner und trister geworden.«
Er war perplex. »Das ist mir selbst gar nicht aufgefallen.«
»Das macht es noch schlimmer. Noch wahrer.« Sie starrte auf die Zinken ihrer Gabel.
Er führte ihre Hand zum Mund und küsste die Innenseiten ihrer Handgelenke, erst das eine, dann das andere. Ihn schmerzte die Vorstellung, dass er auch nur den Hauch eines Zweifels in ihr gesät hatte, was seine Liebe für sie anging. »Claire, ich habe mich nicht mit zu wenig zufriedengegeben.«
»Das glaube ich auch nicht. Du hast genau das erreicht, wofür du bestimmt warst: Du bist ein sehr wertvoller Mann. Ich weiß nur nicht, ob du das selbst erkennst.« Sie schloss die Augen, öffnete sie wieder und betrachtete ihn. »Und Bayber? Was würdest du über ihn sagen?«
»Ich glaube, auch er hat seine Bestimmung erfüllt. Er ist ein Mann von enormer Begabung.«
»Er ist derjenige, der sich mit zu wenig zufriedengegeben hat, Denny. Mit seinem Talent nämlich. Und wenn es so weit ist, wird er sich das wünschen, was du hast.«
Als sie das gesagt hatte, wuchs seine Liebe für sie noch, obwohl er nicht daran glaubte, dass Thomas am Ende ausgerechnet an ihn denken würde. Und doch war da immer noch ein kleiner Teil in Finch, ein winziges, unkontrollierbares Partikelchen, das den Maler beneidete. Dabei hätte er nicht mit ihm tauschen wollen – er wünschte sich einfach das, was Thomas hatte, noch dazu. Das Talent verschaffte dem Künstler ein Dach über dem Kopf und das Essen auf dem Teller. Und es würde ihn um Generationen überleben. Finch war ehrlich genug, um sich einzugestehen, dass ein solches Vermächtnis
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