Das Gewicht des Himmels
Schreibtischplatte, während er darauf wartete, dass sich die Webseite aufbaute. Nachdem Finch Stephen gestanden hatte, dass er nicht fliegen wollte, hatte er von ihm die ganze Logistik aufgedrückt bekommen. Aber wer, um Himmels willen, hatte denn heutzutage keinen Führerschein? Wie bekam der Mann bloß sein Leben auf die Reihe? Auf der anderen Seite kannte Finch Hunderte von Menschen, sowohl berühmte als auch unbekannte, die aus den verschiedensten Gründen nicht fliegen wollten. Endlich flackerte der Bildschirm und zeigte die Seite einer Autovermietung an. Ein Formular mit anzuklickenden Kästchen, einzusetzenden Zahlen und Fragen, die unter anderem mögliche Vorstrafen betrafen: Das alles musste Finch abarbeiten, bevor man ihn für geeignet befand, einen der Fiestas oder Aveos zu mieten. Kurz spielte er mit dem Gedanken, ein Auto aus der »Luxusklasse« zu nehmen, weil ihm der knallrote Mustang auf dem Foto so gefiel. Aber dann siegte die Vernunft. Spät herbst, scheußliches Wetter und Stephen Jameson. Nichts davon sprach für einen sportlichen Roadster. Er blinzelte und drückte eine Taste, überprüfte noch einmal alles und klickte auf den »Absenden«-Button.
Er schob die Gardinen zur Seite und schaute nach drau ßen. Der Oktoberhimmel war eine undurchdringliche graue Fläche, durchsetzt von einigen Wolkenfetzen. Es würde Frost geben, wenn der Regen nachließ. Wieder trommelte er mit den Fingern auf den Tisch, während er auf die Bestätigung seiner Reservierung wartete. Warum fühlte er sich plötzlich so unter Druck?
Das Gemälde wühlte ihn auf. Das Alter der beiden Mädchen war natürlich beunruhigend. Und der Gesichtsausdruck der älteren Schwester wirkte verstörend in seiner Eindringlichkeit. Es war beinahe, als strahlte Zorn von der Leinwand ab, und trotzdem wirkte die Ältere beherrscht. In ihrem Blick lag etwas Wissendes und zugleich Entnervendes. Kessler . Den Namen hatte er schon einmal gehört, aber wo?
Dass Thomas sich selbst in das Gemälde eingefügt hatte, war außergewöhnlich. Als Künstler hatte er immer auf eine gewisse Distanz geachtet. Kenner und Bewunderer mochten glauben, sein Werk zu kennen, aber in Wirklichkeit sahen sie nur, was er sie sehen ließ. Das ist der kleine Raum, in dem ich mich verstecke, Denny, hatte Thomas einmal zu ihm gesagt. Der schmale Grat zwischen dem Porträt und der öffentlichen Person – da halte ich mich auf. Das ist es, was nie jemand zu sehen bekommt.
Was Finch jedoch am meisten beunruhigte, war die Atmosphäre des Bildes. Alles war sorgfältig inszeniert – bis auf die Emotionen der dargestellten Personen. Die empfand Finch als überwältigend, fast schon schmerzhaft real. Die Traurigkeit, die er beim Verlassen von Thomas’ Apartment gespürt hatte, war bei ihm geblieben, auch jetzt noch, da er wieder in seiner eigenen Wohnung angekommen war. Ihn schauderte, und er fragte sich, ob es irgendetwas über Thomas gab, worüber er tatsächlich Gewissheit hatte, einmal abgesehen von seiner unglaublichen Begabung.
Von Thomas’ Begabung war Finch tatsächlich restlos überzeugt. Diese war immer wieder von Neuem bestätigt worden, zuletzt etwa, als Stephen und Cranston beim Anblick des Bildes ehrfürchtig und gleichzeitig verstört reagiert hatten. Er dachte an seine eigenen Gefühle, als er zum ersten Mal mit einem Werk von Thomas konfrontiert worden war, mit seiner brillanten Verbindung von Fantasie und ungezügelter Körperlichkeit. Finchs Unbehagen rührte von den Emotionen, die Thomas dem Betrachter entlockte, Emotionen, die man aus Gründen der Schicklichkeit normalerweise unterdrückte. Setzte man sich mit dem Werk auseinander, so entblößte man sich – wie ein Voyeur, der auf frischer Tat ertappt wird. Thomas’ wahre Begabung, das hatte Finch schon vor langer Zeit begriffen, bestand darin, den Betrachter in einen Zustand des Unwohlseins zu versetzen.
Dieses Bild jedoch verursachte auch dem Künstler ein gewisses Unbehagen. Finch hatte zwischen ihnen gestanden, zwischen Thomas und Stephen, und sich in ihrer Nähe klein und unbedeutend gefühlt. Er hatte von einem zum anderen gesehen: Sie hatten die Köpfe im selben Winkel schief gelegt, die spitzen Nasen zur Leinwand hingeneigt. Doch während Thomas zwischen Sehnsucht und Traurigkeit zu schweben schien, starrte Stephen das Bild so intensiv an, als könnte er erkennen, was unter der Farbschicht verborgen lag.
Das Entstehungsdatum des Gemäldes konnte Finch auf einen Zeitraum von drei bis vier
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