Das Gewicht des Himmels
Royal Worcester gearbeitet, die Porzellanfabrik. Fredas Sujet waren oft kleine Kinder, aber Dorothy hat sich nur für Vögel interessiert. Die Figur im Schlafzimmer war ein Prototyp. Meine Mutter hat sie von ihr bekommen, als ich geboren wurde.«
»Warum hast du sie dir genommen?«
Er zuckte mit den Achseln, als ginge ihn die Frage gar nichts an. »Ich wollte ihr wehtun.«
»Du hast es absichtlich gemacht, weil du gemein zu ihr sein wolltest?«
»Überrascht dich das?« Er stand auf und ging zur Hausbar, wo er sich ein weiteres großzügiges Glas Brandy genehmigte. Er hielt ihr die Karaffe hin, aber ihr Glas war noch voll, darum schüttelte sie den Kopf.
»Ich wollte ihr etwas wegnehmen. Etwas, das sie liebte – im Gegensatz zu ihrem Sohn. Ich glaube, es hat sie ganz schön mitgenommen. Ich hätte jedenfalls nicht gedacht, dass sie sich so aufregen kann.«
Er klang nicht ärgerlich, eher sachlich und distanziert. Er trank seinen Brandy und starrte in die Flammen. Alice erschauderte, aber nicht, weil sie erschöpft war oder fror. Sie schwenkte das Glas in der Hand und beobachtete, wie das Getränk an den Seitenwänden kreiste. Sie nahm einen weiteren Schluck. »Klingt, als hättest du keine besonders glückliche Kindheit gehabt.«
»Ach, da bin ich nicht der Einzige. Mach dir darüber mal keine Sorgen.« Er schaute sie direkt an, und sie wand sich unmerklich unter seinem Blick. »Vermisst du deine Eltern?«
»Jeden Tag.«
Er nickte, als hätte er diese Antwort erwartet. »Ja. Das ist ganz klar. Ich habe jetzt schon fast acht Jahre keinen Kontakt mehr zu meinen. Ich spüre nichts mehr, wenn ich an sie denke. Glaubst du, ich bin deswegen ein schlechter Mensch?«
»Nein, nicht deswegen.«
Er lächelte schwach. »Aha. Jetzt kommen wir der Sache näher. Du meinst also das andere. Das macht mich zu einem schlechten Menschen.«
Hatte er wirklich gedacht, sie könnten die alte, furchtbare Geschichte einfach vergessen, jetzt, da sie sich im selben Zimmer befanden, da sie ihm so nahe war, dass sie bloß die Hand ausstrecken musste, um seine zu berühren? Die Wärme des Brandys flammte in ihr auf und floss in ihrer Mitte zu etwas Schwerem zusammen, das sie tiefer in die Kissen drückte. Sie holte tief Luft. »Meinst du denn, es macht dich zu einem guten Menschen?«
Er nahm ein paar Holzscheite aus einem Korb und warf sie ins Feuer. Wild sprühten die Funken und stiegen im Kamin auf. »An jenem Nachmittag habe ich mich hingelegt, nachdem du gegangen warst, Alice. Als ich ins Zimmer zurückkam, wusste ich, dass du das Bild entdeckt hattest. Erstens hattest du nämlich die Zeichnungen in der falschen Reihenfolge zurückgestellt – wobei ich nicht weiß, ob ich die genaue Reihenfolge selbst noch zusammenbekommen hätte, abgesehen davon, dass dieses besondere Bild eben nicht ganz oben liegen sollte. Zweitens habe ich deine Fußstapfen im Kreidestaub gesehen. Und drittens deinen Daumenabdruck in der Ecke des Bildes. Du hast nicht gemerkt, dass du diese Spuren hinterlassen hast, oder?«
Er stellte sich vor sie und nahm ihr Handgelenk. Sie zuckte zurück und versuchte, ihre Hand wegzuziehen, aber er bemerkte es nicht oder kümmerte sich nicht darum. Er zog ihre Hand näher zu sich heran und umfasste die Kuppe ihres Daumens, als wollte er etwas davon abwischen. Dann ließ er sie wieder los.
Sie hielt sich die Hand vor die Brust. Ihre Gelenke brannten wie Feuer. »Das ist doch egal.«
»Du weißt genau, dass es nicht egal ist.«
»Dir vielleicht nicht. Mir schon.«
Er trank seinen Brandy aus und stellte das Glas mit einem dumpfen Knall auf den Tisch. »Du bist eine schlechte Lügnerin, Alice. Gott sei Dank.«
»Nein, ich bin bloß müde. Ich bin hergekommen, um ein bisschen allein zu sein, und nicht deinetwegen. Ich bin nicht hier, weil ich dich sehen oder deine Stimme hören wollte, und ich will mich nicht an die ganze Geschichte erinnern müssen. Die macht mich krank.«
Wäre sie tatsächlich eine so schlechte Lügnerin gewesen, wie er behauptete, hätte er sie sofort durchschaut. Sie fühlte sich ohnehin die ganze Zeit über einsam und allein – deswegen hätte sie nicht zum Ferienhaus hinausfahren müssen. Aber seine Gegenwart war wie Balsam für sie, wenn auch nur, weil er ihre Eltern einige Wochen lang in den Sommerferien erlebt hatte. Sie konnte sich mit ihm darüber unterhalten, dass ihre Mutter Angst vor Neela gehabt hatte oder dass der Händedruck ihres Vaters ziemlich kräftig gewesen war. Sie konnte ihn
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