Das Gewicht des Himmels
fragen, was ihm durch den Kopf gegangen war, als er sie alle vier betrachtet hatte, an jenem Nachmittag auf der Anlegestelle. Konnte er sich noch an den Toast ihres Vaters beim Abendessen erinnern, an dem Tag, an dem Thomas die Zeichnung fertiggestellt hatte? Sie sah die erhobenen Gläser noch vor sich, irgendetwas Rosafarbenes tanzte darin, sie hörte im Geiste noch das Klingen des Kristalls beim Anstoßen, aber die Worte, die zu dieser Erinnerung passten, waren verschwunden. Alles in ihrem Leben war kaputt, und sie hatte keine andere Wahl, als dies zu akzeptieren. Darum wollte sie die Verbindung mit Thomas, selbst wenn sie schwierig war, nicht auch noch verlieren.
Er wirkte bestürzt. Überrascht registrierte sie, dass sie ihn offenbar verletzt hatte. Der Thomas aus ihrer Erinnerung war gefühllos und gleichgültig; er schien nur zu existieren, um ihr die Bedeutung des Begriffes Verrat zu verdeutlichen.
»Nun«, sagte er, »Alice ist also erwachsen geworden. Und trotz ihrer Krankheit kann sie prima mit dem Messer umgehen.«
Sie wandte sich ab. Sie wollte ihn nicht anschauen.
»War sie in deinem Zimmer, als ich noch einmal zurückkam?« Das hatte sie eigentlich nicht fragen wollen, aber jetzt waren ihr die Worte schon entschlüpft. Am meisten verstörte sie die Vorstellung, Natalie könnte jedes Wort mit angehört haben, das Gesicht in ein Kissen gedrückt, um ihr Kichern zu ersticken. Vielleicht war es ja ein Überbleibsel von Natalies Parfüm, was sie nebenan im Gästezimmer gerochen hatte – wer weiß, Natalies kraftvolle Präsenz konnte möglicherweise auch den Zeitraum von acht langen Jahren überdauern.
»Wenn du davon überzeugt bist, glaubst du mir doch ohnehin kein Wort mehr.« Sein Gesicht leuchtete rot, vielleicht vom Alkohol, vielleicht vom Feuer. »Wirklich erstaunlich. Das ist jetzt Jahre her, und ich fühle mich noch immer unter Druck, mich zu verteidigen. Vielleicht, weil mir deine Meinung wichtig war, im Gegensatz zu den meisten anderen Dingen.«
»Die Meinung eines vierzehnjährigen Mädchens? Wohl kaum. Wenn ich daran denke, dass meine Eltern dir vertraut haben …«
»Deine Eltern waren auch keine Heiligen, Alice. Sie waren normale Menschen, die schlimme Fehler gemacht ha ben. Stell sie nicht als unfehlbar hin, diesem Anspruch können sie nicht gerecht werden. Und was Natalie angeht …«
Unsicher stand sie aus ihrem Sessel auf, von Zorn und Alkohol angetrieben. »Sprich ihren Namen nicht aus. Ich will ihn nicht hören.« Verzweifelt warf sie sich auf ihn, ruderte mit den nutzlosen Armen und trommelte mit den schwachen Fäusten gegen seine Brust. Mit jedem Schlag fuhr der Schmerz durch ihren Körper und hämmerte gegen ihre Knochen.
Er stand ganz still und verteidigte sich nicht. Ihr Zorn verflog so schnell, wie er gekommen war. Ihre unbrauchbaren Knöchel knickten einfach unter ihr weg, sodass sie zu seinen Füßen zusammensackte und mit der Stirn seine Knie berührte. Sie keuchte schwer, glaubte beinahe, ersticken zu müssen, und stieß zwischen einzelnen Schluchzern hervor: »Ich habe Angst. Ich habe Angst, vor allem, die ganze Zeit über.«
Ungeschickt tätschelte er ihr den Kopf. Sie erinnerte sich daran, wie er mit Neela umgegangen war. Er hatte sie im Arm gehalten und ihr mit den Fingerknöcheln den Kopf gestreichelt, bis sie die Augen schloss und mit dem Schwanz gegen seine Brust schlug. Doch jetzt streichelte er Alice, fuhr mit den Fingern durch ihre Locken und strich ihr mit dem Daumen über die Wange.
Er setzte sich neben sie auf den Boden. »Die Beweislage zugunsten des Gegenteils ist erdrückend.«
Das war doch lächerlich. Sie kannte niemanden außer ihm, der so redete: Die Beweislage zugunsten des Gegenteils . »Kannst du nicht reden wie ein normaler Mensch?«
»Ich meinte doch nur, wenn du wirklich vor allem Angst hast, versteckst du sie gut. Du hast nicht zugelassen, dass dich diese Krankheit …«
»RA. Du darfst es ruhig aussprechen. Rheumatoide Arthritis.«
»Und du fällst den anderen noch immer ins Wort. Du hast nicht zugelassen, dass dich die RA in deinem Leben einschränkt. Du hast nicht zugelassen, dass dich der Schicksalsschlag mit deinen Eltern umwirft. Du wirst dein Studium beenden, du …«
»Ich werde mein Studium nicht beenden. Ich habe die Uni abgebrochen. Darum bin ich hier. Es wird mir alles zu schwer. Ich schaffe das nicht mehr.«
»Schaffst du es wirklich nicht mehr? Oder wirst du nur deinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht?«
»Das ist doch
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